Schweizer Revue 3/2018

30 Schweizer Revue / Mai 2018 / Nr.3 Das gab es schlicht noch nicht: Soul aus der Schweiz, und dann erst noch auf Mundart. Und zwar nicht das Substitut aus keimfreier Hochglanz-Tanzmusik, wie sie seit einigen Jahren unter diesem Namen in den Charts anzutreffen ist. Sondern waschechten Soul, der sich in den späten Fünfzigerjahren aus demRhythm ’n’ Blues herauskristallisiert hat. Das Schaffen der Schaffhauser TruppeMin King ist erfreulich. Mit viel Hingabemusiziert das Quintett, wobei es seine Wunderwaffe stets ins Zentrum der mitreissenden Arran- gements stellt: die Stimme von Philipp Alb- recht. Der Mittdreissiger beherrscht vom schmerzvollen Schrei bis zum beseelten Hau- chen die ganze Palette des Genres. Dabei klingt er so unverkrampft und glaubwürdig, als sei der Soul seit jeher nur im kernigen Schaff- hauser Dialekt gesungen worden und nicht im rollenden Amerika- nisch der Schwarzen. Damit lassenMinKing aufhorchen: Ihre Single «Bluemewäg» sticht seit 2012 erfrischend aus dem Airplay der nationalen Sender heraus, das fast gleichnamige Debütalbum «Am Bluemewäg» schaffte es auf Anhieb in die Schweizer Charts – wenn auch nur auf Rang 86. Dass Min King nun mehr als fünf Jahre benötigt haben, um mit «Immer Wieder» nachzudoppeln, hatmehrere Gründe. Zumeinen hat sich die Band nach einer ausgedehnten Tour eine Auszeit gegönnt, Frontmann Philipp Albrecht wagte sich mit dem Dancehall-Song «Fründin» auf Solopfade, und für das zweite Album musste eine leichte Stilkorrek- tur eingeschlagen werden. Auf «ImmerWieder» klingenMinKing deutlichweniger nach dem üppigen Soul der Sixties und lassen stattdessen mehr Luft zwischen den Tönen. «Meisli» ist ein schwebender Blues inMoll, der ganz ohne Refrain auskommt, «Bisch Immer No Da» ein Reggae, bei dem der Rheinfall rauscht, und «Teil Dich Mit» ein gemächlicher 6/8-Takter mit Nancy-Sinatra-Gitarre. ImTitellied singt Albrecht davon, sich im Kreis zu drehen und immer wieder «dryzlaufe». Insgesamt klingt die Band auf ihrem Zweitling gelassener, ihr Sound wohliger – wie eine Afterparty, an die man nur zu gerne ein­ geladen wäre. Auch wenn ganz grosse Knaller wie «Bluemewäg» aus- bleiben, folgt man Min King weiterhin gerne auf ihren Pfaden. STEFAN STRITTMATTER Wie ein Wortspiel stehen die Silben des itali- enischenBuchtitels über dendrei Kapitelndes Erzählbandes. Li steht für «dort» in Deutsch, qui für «hier» und Liquida kann mit flüssig, aber auchmit «er liquidiert» odermit dem Im- perativ «liquidiere!» übersetzt werden. Das Gefühl für Sprache, ihren Klang und die Lust, damit zu spielen, prägen alle Geschichten im Buch von Anna Felder. Erst in der letzten Er- zählung lüftet die Autorin das Geheimnis um Liquida und überlässt den Lesenden dem Sin- nieren über «vertrackte Flüssigkeit». Die Geschichten im ersten Buchteil spie- len in der Schweiz. In «Merlot imTarnmantel» erzählt die Autorin eine Zugreise durch den Gotthard. Die Ich-Erzählerin beobachtet eine Frau, die denMerlot in eine Wasserflasche abgefüllt hat. Vielleicht, um unter den Mitreisen- den keine Spekulationen über ihren Weinkonsum aufkommen zu lassen, vielleicht, um in ihren Erinnerungen ans Tessin ungestört zu bleiben. «EinSpielball des grenzenlosenMeeres: bei sichzuHause, zwischen den alltäglichen Gegenständen und Namen, die noch ein wenig oben schwimmen, vorsichtig, unauffällig. Das Telefon läutet nichtmehr vor- laut...» So beginnt die Erzählung «Madame Germaine» aus demdritten Teil, in welcher eine alternde Frau versucht, mit ihrem verminderten Hörvermögen zurechtzukommen. Witzig zu lesen, was der Wechsel des Telefonhörers von einemOhr zum andern alles auslösen und wie er die Perspektiven verändernkann. DasMeerwirdhier zumSinnbild der Stille, welcheMadame Germaine immer mehr umgibt. Zu ihrem achtzigsten Geburtstag versammelte Anna Felder un- veröffentlichte und überarbeitete Erzählungen, welche nun auch in deutscher Übersetzung vorliegen. Die Autorin schreibt über eineWelt, die sie kennt und intensiv beobachtet. Das Alltagsgeschehen wird in kurzen Texten, immer durchzogen von feiner Ironie, ausgesponnen und oft sinnbildlich reflektiert. Jede Geschichte scheint in einem lan- gen Prozess geschliffen zu sein, umamEnde in vielen Facetten zu fun- keln. Es sind Miniaturen, denen man beimWiederlesen immer wie- der eine neue Seite abgewinnen kann. Anna Felder, 1937 geboren, wuchs als Tochter eines Deutsch- schweizers und einer Italienerin in Lugano auf. Sie studierte Litera- tur in Zürich und Paris. Danach unterrichtete sie Italienisch an der AltenKantonsschule inAarau. Heute lebt die Schriftstellerin inAarau und Lugano. Im Februar 2018 wurde sie von der Schweizerischen Eidgenossenschaft für ihr Lebenswerkmit demSchweizer Grand Prix Literatur ausgezeichnet. RUTH VON GUNTEN Hingabe auf Helvetisch Li-qui-da Gehört Gelesen ANNA FELDER: «Liquida» Edizioni Opera Nuova 2017 110 Seiten; CHF 20.00 MIN KING: «Immer Wieder», Irascible 2017.

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