Schweizer Revue 1/2018

Schweizer Revue / Januar 2018 / Nr.1 30 Seine Vielseitigkeit ist verblüffend. Florian Schneider ist vor allem für seine Rolle im Musical «The PhantomOf TheOpera» bekannt, die er in Basel über 500Mal spielte. Er hat aber auch an anderen grossen Musical-Theatern Europas gesungen, sowie als Lyrischer Tenor auf den Operettenbühnen des deutschspra- chigen Raums. Dazu sind Brechtlieder und – was viele nicht wissen – Chansons in Mund- art gekommen. Diesen widmet sich Florian Schneider mit zunehmender Leidenschaft. Der Baselbieter hat vor ein paar Jahren das Mundartwerk «Schang- songs» veröffentlicht. Nun ist die Fortsetzung erschienen – mit uner- wartetem Erfolg. Florian Schneiders Mundartlied «Alts, chalts Hus» ist in der «Liederbestenliste der deutschsprachigen Liedermacher» prompt auf Platz eins gelandet, das Album«Schangsongs 2» ist an glei- cher Stelle zum«AlbumdesMonats» gekürt worden. Diese Bestenliste hat zwar nicht den Charakter einer offiziellen Hitparade, sie spiegelt aber die Bewertung unabhängiger Fachleute undMusikjournalisten aus Deutschland, Österreich, Belgien und der Schweiz und gilt als wichtige Referenz. Auf «Schangsongs 2» singt Florian Schneider mit sonorer, manch- mal aufbrausend kantiger Stimme, wobei die Nähe zu Paolo Conte und TomWaits in gewissen Momenten deutlich spürbar ist. Vielen seiner Lieder steht eineMelodie von TomWaits zuGrunde, die Schnei- der jeweils mit einemMundarttext versehen hat. Der Barde singt über seine ländliche Heimat und universelle The- men wie Liebe, Einsamkeit und Tod. Die Texte sindmanchmal bissig und morbid, meist aber liebevoll und witzig. So fabuliert Florian Schneider in «Alts, chalts Hus» über das Haus seiner Jugend, in demes spukt, in «Heb di» besingt er zärtlich eine flüchtige Liebschaft: «Bhüet di Gott, du chleises Härz, s bescht vomir blibt do bi dir. Und lachsch dermorn en andre a und lüpfsch der Rock im neggschte Ma, wenn d Wält au morn scho zämmekracht, hüt bisch bi mir die ganzi Nacht». («Behüte dich Gott, du kleines Herz, das Beste von mir bleibt hier bei dir. Und wenn du morgen auch einen anderen Mann anlachst und für ihn den Rock hebst, undwennmorgen schon dieWelt zusammenbricht, heute bist du die ganze Nacht bei mir.») Florian Schneider begleitet sich auf den 14 Liedern des Albumsmit akustischer Gitarre. Unterstützt wird er vomgrossartigen deutschen Violinisten Adam Taubitz, der in der klassischen Musik und im Jazz beheimatet ist. Diese Instrumentierung verleiht denMundartliedern eine Fragilität, die wunderbar zu den Texten passt. MARKO LEHTINEN «Die Silhouette des Kommissionärs näherte sich demvereisten Fenster, plötzlich erschien sein Gesicht, im Kerzenschein eines Geburts- tagskuchens zerstückelt.» Dieser Satz zu Be- ginn lässt den Leser ahnen, dass der Kommis- sionär keine gutenNachrichtenbringt. Familie Kummer ist, wie viele andere auch, im Rückstand mit den Zinszahlungen für ihr Haus. Aber heute wird gefeiert, der fünfte Ge- burtstag von Zobeline. Sogar ihr Vater Natha­ nael, der fünf verschiedene Jobs hat, und ihre Mutter Rose, die unermüdlichmit Vitaminen hausiert, sind zuhause. Zur Familie gehören auch Zobelines Bruder Yapaklu, der kriegs- traumatisierte Seraphin und Philanthropie, die dicke Sängerin. Sie wohnt seit jeher im Haus und ernährt sich nur von Schnitz, einem speziellen Blätterteiggebäck. Jeden Abend lässt sie mit ihremGesang Hausbewohner undNachbarn denAlltag voller Sorgen vergessen. Die beiden Kinder sind sich selbst überlassen und schwänzen die Schule. Auf ihren Streifzügen durch verlassene Strassen stossen sie auf einen seltsamen Pommes-frites-Automaten, der ein Geheimnis birgt. Die Geschichte in Marie-Jeanne Urechs Buch «Schnitz» ist weder räumlich noch zeitlich genauer verortet. Sie erzählt von einer geplatz- ten Immobilienblase, dem Niedergang der Stahlindustrie und der Familie Kummer. Winter und Kälte herrschen von Anfang bis zum Ende.WennNathanael mit der Pflugschar nachts in den dunklen Stras- sen Schnee räumt, fröstelt es einen als Leserin geradezu. Die Autorin malt ein düsteres Bild, demaber ein gewisser Zauber innewohnt. Dies auch durch surreale Figuren wie Philanthropie, die direkt einer Kin- derfantasie zu entsteigen scheinen. Humorvoll, niemals platt oder ne- gativ, hält die Autorin die Hoffnung auf ein gutes Ende wach. Ein So- zialdrama, märchenhaft und doch nicht realitätsfremd erzählt. Ein Lesevergnügen pur. Marie-Jeanne Urech, geboren 1976, besuchte die Schulen und die Universität – Soziologie und Anthropologie – in Lausanne, bevor sie die Filmschule in London absolvierte. Sie lebt als Regisseurinund freie Schriftstellerin in Lausanne. Der vorliegende Roman erschien unter dem Titel «Les Valets de nuit» bereits 2010 und wurde mit dem Prix Rambert ausgezeichnet. Dieser Preiswird seit 1898 alledrei Jahre einer Autorin oder einemAutor aus der französischsprachigen Schweiz ver- liehen. 2017 erschien die Übersetzung, durch ProHelvetia unterstützt, von Lis Künzli. Sie hat es hervorragend verstanden, die poetische Spra- che der Autorin ohne Floskeln ins Deutsche zu übertragen. RUTH VON GUNTEN Der Barde aus dem Baselbiet Familie Kummer und ihre Sorgen Gehört Gelesen FLORIAN SCHNEIDER MIT ADAM TAUBITZ: «Schangsongs 2». Flo Solo Duo Trio, 2017. MARIE-JEANNE URECH: «Les Valets de nuit», Editio n l’Aire, Vevey, 2010. In der deutschen Über­ setzung von Lis Künzli: «Schnitz», Bilgerverlag, 2017. 288 Seiten, ca. CHF 26.–

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