Schweizer Revue 2/2018

13 Schweizer Revue / März 2018 / Nr.2 Besatzungen der LybianCoast Guards (LCG) sollen sogar Fälle von Ertrinken provoziert haben, zumindest laut einem Ende 2017 veröffentlichten Be­ richt von Amnesty International. Die­ ser zitiert einenVorfall vom6. Novem­ ber, bei demdieManöver einer Fregatte der Coast Guards zum Ertrinken von rund 50Menschen geführt haben soll. Das EJPD erklärt, dass keine offizi­ ellen Informationen zur Bestätigung des Vorfalls vorliegen. «Die alarmie­ rende Zahl von Havarien im Mittel­ meer mit 2832 Todesfällen im Jahr 2017 verpflichtet uns jedoch, zumbes­ seren Schutz der Migranten beizutra­ gen. Das Projekt zur Seerettungwurde ins Leben gerufen, umdieses humani­ täre Ziel zu verfolgen», so Emmanuelle Jaquet von Sury weiter. Amnesty be­ klagt, man spreche mit gespaltener Zunge. «Die europäischen Staaten wissen sehr genau um die schweren Menschenrechtsverstösse in Libyen und haben doch entschieden, die Migration durch die Unterstützung der libyschen Behörden einzudäm­ men. Indem sie die Überfahrten stop­ pen, halten sie TausendeMenschen in einem Land, in demMisshandlungen an der Tagesordnung sind und wo sie nur geringe oder gar keine Chancen auf Schutz haben.» «Die auf See Geretteten sagen uns, dass sie lieber sterben würden, als in dieHaftnachLibyenzurückzukehren», berichtet Caroline Abu Sa’Da, Leiterin des Vereins SOS Méditerranée Suisse, der sich an den Rettungsoperationen der Aquarius beteiligt. Ihrer Einschät­ zung nach kann man der LCG nicht trauen. «Was ist schon diese Küsten­ wache? Eher Milizen, die Abfang­ aktionen auf See betreiben und die Migranten, zuweilen sogar unter Ver­ hindern einer NRO-Hilfsaktion, wie­ der inhaftieren – unter abartigen Be­ dingungen. Die Schweiz kann nicht ein Auge schliessen und sich damit begnügen, dass diese Einheiten Men­ schen aus demWasser holen.» Die Schweiz als Organisator des drit­ ten Treffens der Kontaktgruppe für das zentraleMittelmeer imNovember 2017 in Bern «reiht sich ein in eine re­ pressive europäische Politik, deren Ziel die Unterbindung des Zugangs von Migranten nach Europa ist», ur­ teilt Vincent Chetail, Leiter des Zent­ rums für globaleMigration amGenfer Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung. Die EU hat im vergangenen Jahr 46 Millionen Euro zur Stärkung der Kapazitäten der libyschen Behörden bereitgestellt. Sie verweist darauf, dass diese Politik im letzten Jahr zu merklich weniger Überfahrten geführt hat. Das EJPD führt an, dass dank der Strategie 14000 Menschen aus Seenot gerettet werden konnten. «Libyen hat die Gen­ fer Flüchtlingskonvention nicht rati­ fiziert und ist kein Asylland. Es bietet weder Sicherheit noch Schutz. Es gibt keine öffentliche Ordnung und die zugewiesenen Mittel werden abge­ zweigt», so der Professor für interna­ tionales Recht, der meint, Europa ma­ che sich damit zum Komplizen der Übergriffe. Gedrängt zu gefährlichen Überfahrten Der Experte beklagt eine ineffiziente, risikosteigernde Politik. «Die Über­ fahrten ab Libyen oder Tunesien sind die leichtesten Routen. Sind diese blockiert, werden sich die Migranten­ ströme an andere Orte verlagern, so­ dass die Risiken lebensgefährlicher Überfahrten steigen.» Der Gründer des Zentrums für globaleMigration ist der Ansicht, dass insgesamt ein ver­ fälschtes Bild der Migrationsströme kursiert. «2015 stieg die Zahl der Asyl­ antragsteller in Europa auf 1,2 Millio­ nen, das entspricht 0,2 Prozent der EU-Bevölkerung und war ein statisti­ scher Spitzenwert.Mankannalsonicht von massiven Zuströmen sprechen. Die wahre Herausforderung besteht darin, beim Wiederaufbau Syriens mitzuwirken und die Migrationspoli­ tik zu überdenken, insbesondere durch Eröffnen legaler Zugangswege nach Europa.» Laut Amnesty Interna­ tional wählten zwischen 2015 und 2017 mehr als eine halbe Million Men­ schen die Mittelmeerroute, 10000 Tote waren die Folge. Nach Angaben der IOM befinden sich in Libyen über 400000 Exilanten, davon insgesamt rund 20000 Migranten in Haft. Beim dritten Treffen der Kontakt­ gruppe imNovember 2017 inBernwar neben demUNHCRund der IOMauch das Internationale Komitee vom Ro­ tenKreuz anwesend, das Haftzentren in Libyen besucht. Seine Vertreter merkten an: «Das Bestreben einer Migrationspolitik muss auch sein, Haft als Mittel der Migrationssteue­ rung sowie Misshandlungen von Migranten zu reduzieren.» Die Orga­ nisation empfahl, «einen verstärkten Fokus auf denUmgangmit sterblichen Überresten sowie auf die Datenpflege von Verstorbenen zu legen und die Übermittlung von Informationenüber Umstände und Ort des Verschwin­ dens an Angehörige von Verscholle­ nen zu erleichtern», so Sprecher Tho­ mas Glass. DerWinter amMittelmeer hat die Überfahrten nicht abreissen lassen. Am 16. Januar führten die Besatzun­ gen der Aquarius fünf Rettungsaktio­ nen hintereinander durch und rette­ ten 505 Menschen. Am selben Tag be­ rechnetedie italienischeKüstenwache, die insgesamt elf Rettungsaktionen durch NRO und Handelsschiffe koor­ dinierte, dass im Grossraum Libyen 1400 Personen gerettet wurden. «Es ist unmöglich, den gesamten Rettungs­ bereichmit den drei dort befindlichen NRO-Schiffen abzudecken», kommen­ tierte SOS Méditerranée und rief die Staaten Europas dazu auf, eine euro­ päische Rettungsflotte einzurichten, um den angekündigten Tod Tausen­ der zu vermeiden.

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