Schweizer Revue 2/2018
20 Schweizer Revue / März 2018 / Nr.2 Gesellschaft 1979 erklärten Sie in einem Buch den «Weg zum Sozialismus in der Schweiz»: Es gehe darum, «den Kapitalismus zu stürzen, die Verfügungsmacht der Kapitalistenklasse über die grosse Mehrheit der Bevölkerung zu brechen». So haben wir es damals formuliert. Wir wollten die bürgerliche Gesell schaft abschaffen, den Privatbesitz an Produktionsmitteln, wir wollten eine Gesellschaft von Gleichen, sozial und nicht nur rechtlich Gleichen. Linke wie Sie hätten die kritische Auf arbeitung ihrer Vergangenheit versäumt, kritisierte die Weltwoche in einem Artikel anlässlich des letzten Jubiläums von «1968» vor zehn Jahren. Wie gesagt: Ich bin froh, dass aus jener Revolutionnichtswurde. Zugleich bin ich froh, dass viele unserer Anliegen verwirklicht wurden. So gibt es heute mehr Gleichheit zwischen den Ge schlechtern, die Situation der auslän dischen Arbeiter in der Schweiz ist besser, die Altersvorsorge wurde für alle sichergestellt. Und der Kapitalismus? Manche unserer Ideen sind heute noch aktuell. Denken Sie an das Ge wicht des global operierenden Ban kenkapitals, das die westliche Welt 2008 in die Krise stürzte. Für unsere Gesellschaftwäre es auch noch heute eine interessante Perspektive, diese Macht demokratisch zu kontrollie ren. Sie waren Pädagoge und Professor für Pädagogik: Was bewirkte das Jahr 1968 in der Schule? Vor allem wurde das Bildungssystem geöffnet. Wir hatten 36 Schüler in un serer Klasse am Gymnasium in Frau enfeld – nur fünf davon waren Mäd chen. Heute gibt es mehr Mädchen und Kinder aus unteren sozialen Schichten an höheren Schulen. Aus serdem sind die Prügelstrafen ver schwunden, aber die Autorität zum Glück nicht ebenfalls. Sind Sie heute ein Liberaler? So würde ich es nennen, ja: sozial liberal. Der gutbürgerliche Liberalis mus war eines der Feindbilder von «1968», aber er ist das Fundament einer demokratischen Gesellschaft. Imheu tigen Russland sieht man das: Eine Demokratie wird autoritär, wenn der Liberalismus fehlt. Die 68er wurden in der Wohlstands- und Wachstumsgesellschaft der Nachkriegsära gross. Dieser Gesellschaft und ihren Werten erklärten sie dann den Kampf. Ist das nicht paradox? Nein, fast noch eher ist es logisch.Wer sich um seine Existenz sorgen muss, verbringt seine Zeit ja nicht primär damit, alternativen Weltentwürfen nachzurennen, sowiewir damals. Und umgekehrt – wer sein Bierli trinken und sein Filet essen darf, kann trotz dem noch nachdenken. Zum Beispiel darüber, dass es denselbenWohlstand in der DrittenWelt nicht gibt. Gerade ein solcher Zwiespalt könnte einen hellhörig machen für Fragen gesell schaftlicher Gerechtigkeit. Ihre RML nannte sich ab 1980 Sozialistische Arbeiterpartei (SAP). Sie gewann einzelne Sitze in Kantonen und Gemeinden, zudem lancierte sie eine eidgenössische Initiative für eine gesicherte Berufsbildung, die 1986 klar verworfen wurde. 1987 wurde die SAP stillgelegt, viele Mitglieder schlossen sich den Grünen oder der SP an. Ja, ich war bis zum Schluss dabei, trat danach aber nirgends mehr ein, weil mich meine wissenschaftliche Arbeit stärker interessierte. Vielen unserer Anliegen fühle ichmich dennochnach wie vor verpflichtet. Welchen? Der Demokratisierung, gerade in wirtschaftlichen Belangen, der Gleich berechtigung der Frauen – oder der sozialen Sicherheit. DANIEL DI FALCO IST HISTORIKER UND JOURNALIST BEI DER ZEITUNG DER BUND 1968: Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs 1968? Historiker sprechen heute eher von den «68er-Jahren» und meinen damit, dass sich die Ereignisse – auch in der Schweiz – nicht auf ein ein- zelnes Jahr beschränkten. Da waren die Tumulte am Rolling-Stones Konzert im Hallenstadion in Zürich im April 1967, die Besetzung des Lehrer seminars in Locarno im März 1968, die «Globuskrawall» genannten Zürcher Strassenschlachten im Juni 1968, die grosse Frauendemo auf dem Bundesplatz («Marsch auf Bern») im März 1969 oder Harald Szeemanns provokante Ausstellung «When Attitude Becomes Form» in der Kunsthalle Bern im März/April 1969. Die 68er-Bewegung revoltierte gegen überkom- mene Autoritäten, und sie verlangte Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Solidarität. Zugleich wurde in den schlagzeilenträchtigen Protesten eine umfassendere Entwicklung sichtbar: Sie waren der Höhepunkt eines gesellschaftlichen Aufbruchs, der schon um 1965 eingesetzt hatte und ein gutes Jahrzehnt dauerte. Er zeigte sich in der wachsenden Quote der Scheidungen, der Hochschulabschlüsse oder der Frauenerwerbsarbeit. Zudem schufen auch der Wohlstand, die Jugendkultur und die Massen medien eine Dynamik, die zunehmend mit jenen konservativen Werten kollidierte, die das Klima in der Schweiz der Nachkriegsära prägten. So war eine gesellschaftliche Modernisierung in Gang gekommen. Sie brach sich in den Protesten der 68er Bahn und mündete schliesslich in politische Reformen, aber auch in eine breite Liberalisierung sozialer Normen: Vom Konkubinat über den Kulturkonsum bis zur Frisur, vervielfäl- tigten sich die akzeptierten Lebensformen. So nahm viel von dem, was heute selbstverständlich ist, in jenen «68er-Jahren» seinen Anfang. DDF Der «Globuskrawall» im Sommer 1968 in Zürich endete in Strassen schlachten. Foto Keystone
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