Schweizer Revue 4/2018

17 Schweizer Revue / Juli 2018 / Nr.4 Literaturserie zu Goll zurück, den sie 1921 in zweiter Ehe heiratete und mit dem zusammen sie für Jahr­ zehnte eines der skandalösesten Paare der Pariser Bohème bildete. Wobei der leiden­ schaftlichen Liebeskorrespondenz der beiden ebenso leidenschaftliche Seitensprünge ent­ sprachen. Ivan war entzückt von der jungen Lyrikerin Paula Ludwig, Claire hatte Affären mit AndréMalraux, FranzWerfel und Jacques Audiberti. Bis sie die Untreue nicht mehr er­ trug und sich umbringen wollte. 1947, nach Golls amerikanischem Exil, lebten die beiden wieder in Paris und pflegte Claire den an Leu­ kämie Erkrankten bis zu seinem Tod 1950. Aber die grosse Liebe ihres Lebens liess sie nicht mehr los. Sie kämpfte mit aller Kraft ge­ gen das Vergessen seinesWerks und ging sogar soweit, Paul Celan völlig zuUnrecht zu seinem Plagiator zu stempeln. In seinem letzten Ge­ dichtband, «Traumkraut», hatte Goll über die treulose Gefährtin grosser Männer geschrie­ ben: «Du bist eine Angst-Tänzerin / als Herbst­ zeitlose verkleidet / Im Kreise von roten Krie­ gern / beschwingt dich Knochenmusik / Doch nimmer sprengst du den Kreis / und nimmer schwebst du zu mir.» CHARLES LINSMAYER IST LITERATURWISSENSCHAFTLER UND JOURNALIST IN ZÜRICH CHARLES LINSMAYER Als der Frauenfelder Huber-Verlag Claire Studers Novellen «Die Frauen erwachen» her­ ausbrachte, verspottete Friedrich Glauser sie am 6. Januar 1919 in einem Brief an Robert Binswanger in Anlehnung an den französi­ schen Pazifisten gleichen Namens als «männ­ lichen (!) Barbusse» und meinte, das Buch, in dem eine «unersättliche Frau den Bauchtanz der Menschenliebe» mime, könne einem gründlich den Magen verderben. Claire Studer, am 29. Oktober 1890 in Nürnberg als Tochter eines jüdischen Hopfenhändlers geboren und 1911 durch die Heirat mit dem Verleger Hein­ rich Studer Schweizerin und Mutter einer Tochter geworden, hatte als Studentin in Genf pazifistisch zu denken begonnen und gehörte ab 1917 in Zürich zur Dada-Bewegung. Eman­ zipation und Menschenliebe traten imWerk der begabten Lyrikerin undVerfasserin der ful­ minanten Memoiren «Ich verzeihe keinem» (1976) schon bald in den Hintergrund und machten lyrischen Evokationen der Paarbe­ ziehung wie den (französisch geschriebenen) «Poèmes d ’ amour» (1925) oder den «Poèmes de la jalousie» (1926) Platz. Glausers Kennzeich­ nung «unersättlich» war wohl nicht ganz ab­ wegig, aber auch ihr Sexappeal muss so un­ widerstehlich gewesen sein, dass sie noch kurz vor ihrem Tod am 30. Mai 1977 in Paris Jürgen Serke gegenüber zu Protokoll gab: «Ichhabe das Pech, dassmichMänner anspringenwie Flöhe.» Rilke, Werfel, Malraux, Audiberti … 1916, längst von Studer geschieden, hatte sie denAntrag des elsässischenDichters IvanGoll abgeschmettert und war inMünchen für zwei Jahre Rilkes Geliebte geworden, in dessen «unirdischen, glanzerfüllten Augen» sie «den Strahl der Genialität zucken» sah. Rilkes Kind aber liess sie abtreiben und kehrte nun doch Gebannt vom Strahl der Genialität Die Schweiz provozierte Claire Goll als früh Emanzipierte, Paris eroberte sie als Gefährtin grosser Männer. «Ich schreibe an einem Roman über meine letzte Liebe. Damit will ich den Frauen in meinem Alter beweisen, dass es für die Leidenschaft nie zu spät ist. Ich bin 82, aber ich stehe jeden Morgen kopf und fahre Rad wie der Kaiser von Abessinien. Ich verehre Unkraut. Ich gehe zu Bett mit Rimbaud und singe täglich die Bach-Kantate ‹Ich freue mich auf den Tod›. Mein Lieblingsheiliger ist Franz von Assisi. Meine Lieblings­ speise ist Eis. Aber in Deutsch- land ist das Eis so schlecht. Die deutsche Seele liegt in der Wurst.» (Claire Goll in einem Interview mit Elfriede Jelinek in der «Münchner Abendzeitung» vom 31.7.1973). BIBLIOGRAFIE: Bei Wallstein ist «Ich sehne mich nach Deinen Briefen», der Briefwechsel Ivan Goll/Claire Goll/Paula Ludwig, greifbar. Als Insel-Taschenbuch die Briefe Rilke/Claire Goll.

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