Schweizer Revue 5/2018
Schweizer Revue / September 2018 / Nr.5 12 Politik JÜRG MÜLLER Erschlichene Beiträge von Sozialversicherungen auf Kosten der All- gemeinheit sind keine Kavaliersdelikte. Kommen solche Fälle an die Öffentlichkeit, lösen sie verständlicherweise grosse Empörung aus. Etwa in jenem Fall, wo eine Frau gemäss ärztlichem Attest kaum ge- hen konnte, dann aber trotzdem in High Heels davongestöckelt sei, wie sich CVP-Nationalrätin Ruth Humbel in der Parlamentsdebatte ausdrückte. An den Tag gebracht haben den Vorgang Überwachungs- bilder. Doch wie weit darf diese Observation gehen? Diese Frage musste das Parlament bei der Beratung der neuen gesetzlichenGrundlage für die Überwachung von Versicherten beantworten. Nötig wurde das, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Schweizerische Bundesgericht die ungenügende gesetzliche Grund- lage für Überwachungen gerügt hatten. Diese Art von Versicherungs- betrug ist zwar nicht allzu stark verbreitet: Gemäss Bundesamt für Sozialversicherung wurden 2017 bei der Invalidenversicherung (IV) 630 Missbrauchsfälle aufgedeckt. Das sind 0,3 Prozent von gesamt- haft 220000 IV-Bezügerinnen und –Bezügern. Zwei Drittel der Fälle sind nicht durch Überwachung ans Licht gekommen, sondern unter anderemdurchwiederholtemedizinische Abklärungen. Trotz allem hat das Parlament ein recht scharfes Gesetz erlassen. Die Versicherungen – also IV, AHV, Krankenkasse, Unfallversiche- rung, Arbeitslosenversicherung, Taggeldversicherung, Ergänzungs- leistungen – können «eine versicherte Person verdeckt observieren und dabei Bild- und Tonaufzeichnungen machen und technische Instrumente zur Standortbestimmung einsetzen», wie es im neuen Gesetz heisst. Veranlassen kann diese Massnahmen ein Direktions- mitglied der zuständigen Versicherung, eingesetzt werden dürfen auch «externe Spezialistinnen und Spezialisten», also Privatdetektive. «Technische Instrumente zur Standortbestimmung», also GPS- Tracker oder Drohnen, müssen von einemGericht bewilligt werden. Der Bundesrat mahnte zur Zurückhaltung Rechtsprofessoren warnten imVorfeld der Parlamentsdebatte vor ei- nem allzu weitgehenden Gesetz. Und auch der Bundesrat wollte GPS-Ortung gar nicht zulassen. Innenminister Alain Berset wies auf den Schutz der Privatsphäre und den Grundsatz der Verhältnismäs- sigkeit hin. Doch im Parlament setzte sich die harte Linie durch. SVP-Ständerat Alex Kuprecht erklärte, er vertraue den Praktikern mehr als den Rechtsprofessoren. GPS-Tracker seien nötig, sagte CVP-Ständerat Pirmin Bischof, um Personen lokalisieren zu können, schliesslich hielten sich gerade jene Leute, die Missbrauch betrieben, nicht immer an ihremWohnort auf. Auch die Kritiker der Vorlage bekannten sich zur Missbrauchsbe- kämpfung, allerdings unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze. Wegen ein paar Hundert Delinquenten, so argumentierte SP-Natio- nalrätin Silvia Schenker, dürfe man doch nicht alle unter General verdacht stellen. SP-Ständerat Hans Stöckli erinnerte daran, dass das Parlament kürzlich eine Gesetzesverschärfung für Steuerdelin- quenten abgelehnt habe. Versicherung spielt Polizei Trotz aller Kritik imParlament wollte die Linke dann doch nicht das Referendum ergreifen. Die SP fürchtete eine Debatte über «Sozial- schmarotzer» und sprang erst auf, als eine kleine Gruppe um die Schriftstellerin Sibylle Berg unddenKampagnen-SpezialistenDimitri Rougy (siehe «Herausgepickt», Seite 31) erfolgreich eine internetba- sierte Unterschriften-Sammelaktion gestartet hatte. «Noch nie», so halten die Gegner des Überwachungsgesetzes fest, «hat ein Gesetz so tief in die Privatsphäre von uns allen eingegriffen. Es ist sogar erlaubt, ins Schlafzimmer zu filmen, wenn dieses von aussen einsehbar ist.» Die Referendumsführer stören sich vor allem daran, dass die Versi- cherungen selber entscheiden können, ob und mit welchen Mitteln sie ihre eigenen Kunden und Prämienzahler überwachen. Verbre- chensbekämpfung, Ermittlungen und ganz speziell Observationen seien alleinige Aufgabe der Polizei und nicht der Versicherungen. Ein Sozialdetektiv, der im Auftrag einer Versicherung arbeite, stehe un- ter einemgewissenDruck, jene Bilder zu liefern, welche die Versiche- rungen erwarten. Und «die Versicherung möchte so wenig wie mög- lich bezahlen», heisst es imArgumentarium der Gesetzesgegner. Blicken Versicherungen bald ins Schlafzimmer? Am 25. November 2018 entscheidet das Volk über ein scharfes Gesetz gegen den Missbrauch im Sozial versicherungsbereich. Eine Kleinstgruppe hat das Referendum gegen die Sozialdetektive ergriffen. Schriftstellerin Sibylle Berg (ganz rechts), Nationalrätin Silvia Schenker und Dimitri Rougy bei der Einreichung der Unterschriften. Foto Keystone
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