Schweizer Revue 5/2018

Schweizer Revue / September 2018 / Nr.5 16 Literaturserie kapsel Einzelheiten preis, und seine Recherche führt ihn nach Afrika, nach Zürich und nach Berlin. Bei Begegnun- gen mit seinen früheren Geliebten und einer DDR-Funk­ tionärin, in die er sich unsterblich verliebt, besonders aber bei Kontakten mit den Personen, die mit demUnfall in Be- ziehung standen, enthüllt sich ihm langsam, was in jener Nacht geschehen ist. Eine zweite Heimkehrmissglückt wie die erste, und erst beim dritten Mal kommt es zum Ge- sprächmit demVater, der inzwischen dement wurde, ihm aber noch die zentrale Erkenntnis vermitteln kann: «Es ist alles Traum und trotzdem wahr. Das Wesen des Menschen ist die Ver- blendung.» Heimkehrend, hat Heinrich auch die Liebe seines Lebens wie- dergefunden, an der Unfallstelle von damals aber wartet das re­ parierte Unglücksfahrzeug. Am Steuer sitzt ein Kater, und, «einen Joint imMundwinkel», rast dieser mit dem Heimgekehrten davon: «Auf die andere Seite, Herr Doktor, vom Tod ins Leben!» Das Buch, dessen Fülle nur angedeutet wer- den kann, zeigt einen neuen Hür- limann: einen, für den nicht mehr das Sterben, sondern die Überwin- dung des Sterbens zum Thema wird, ein Erzähler aber, für dessen Schreiben auf jeden Fall weiterhin gilt, was ihm Martin Walser be- reits 1995 attestiert hat: «Schwere mit Schwung». CHARLES LINSMAYER IST LITERATURWISSEN- SCHAFTLER UND JOURNALIST IN ZÜRICH CHARLES LINSMAYER 1974, im Jahr, als sein Vater, Hans Hürlimann, Bundesrat wurde, kamsein 24-jähriger Sohn Thomas nach Berlin und entdeckte nach Jahren als Klosterschüler in Einsiedeln und Student in Zürich eine ganz neue, radikal andere Welt: «Unübersehbar flatterte da eine Freiheitsfahne. Noch war das ‹rote Jahrzehnt› nicht in die bleierne Zeit gekippt.» Zehn Jahre blieb er in der geteilten Stadt, hängte das Studiuman den Nagel und wusste bald einmal, dass er nur schreibend, «nur in denWörtern» atmen konnte. Die Kunst wurde aber erst existentiell, als ihm1980 der Krebstod seines jüngeren Bruders das Thema aufzwang: das Sterben und die Vergäng- lichkeit. So entstand das Stück «Grossvater und Halbbru- der», das er dem Zürcher Suhrkamp-Vertreter Egon Am- mann einschickte. Der besuchte ihn in Berlin und erklärte: «Vergessen Sie das Theater, schreiben Sie Prosa, dann wer- den wir Sie herausbringen.» Kurz darauf aber nahmdas Berliner Theatertreffen das Stück zur Präsentation an. Und als es 1981 in Zürich urauf- geführt wurde, lag auch Hürlimanns Prosadebüt «Die Tes- sinerin» in den Buchläden. Ammannwar nämlich nach sei- ner Absage erneut nach Berlin gekommen, und im «Litfin», einer Kneipe an der Berliner Mauer, hatten die beiden die Gründung des Ammann-Verlags beschlossen, in demnicht nur «Die Tessinerin», sondern auch «Das Gartenhaus», «Fräulein Stark», «Der grosse Kater», «Vierzig Rosen» und die Erzählungen erscheinen sollten. 1984 kehrteHürlimann in die Schweiz zurück, und es sollte 34 Jahre dauern, bis er jene Rückkehr, virtuos verfremdet und zu einer grandio- sen Odyssee gesteigert, zum Roman «Heimkehr» zu verar- beiten vermochte. Rückkehr im dritten Anlauf Der FabrikantensohnHeinrichÜbel, der 18 fruchtlose Jahre als ewiger Student vertan hat, wird von seinemVater, dem Gummi-Fabrikanten gleichen Namens, nach Hause geru- fen, erleidet aber unterhalb der väterlichen Fabrik einen Verkehrsunfall. Mit einer entstellenden Kopfverletzung kommt er in einemsizilianischenHotel wieder zu sich und versucht nun verzweifelt herauszufinden, was bei jenem Unfall und in der Zeit danachmit ihmgeschehen ist. Glatz- köpfig, wie er nun ist, erkennt ihn niemand wieder und kann er sich quasi in eigener Sache als Kriminalist betäti- gen. Allmählich erst gibt die verschüttete Erinnerungs­ Die Freiheitsfahne wehte im geteilten Berlin Während seinen ersten zehn Berliner Jahren ist Thomas Hürlimann zum Schriftsteller geworden. «In einer nebligen Nacht stopfte ich sämtliche Ordner, Kladden, Karteikarten, auf denen ich Stichworte notiert hatte, in die Abfalltonnen, machte mir am nächsten Morgen mit dem Tauchsieder eine Tasse Nescafé und schrieb die erste Silbe, um meine ganze bisherige Existenz auf einer Seite zusammenzu­ fassen. Ich stutzte, hörte aus dem Hofschacht Gerümpel, den Einmarsch der Müllmänner, und schon war ich unten, stand mit ausgebreiteten Armen vor den Tonnen und: Finger weg!, schrie ich, das ist kein Abfall, das ist mein Leben!» (Aus «Heimkehr», S.Fischer, Frankfurt 2018). BIBLIOGRAFIE: «Heimkehr» erschien bei S.Fischer, Frankfurt am Main, wo auch Hürlimanns andere Bücher inzwischen greifbar sind.

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