Schweizer Revue 5/2018

Schweizer Revue / September 2018 / Nr.5 19 INTERVIEW: MARC LETTAU «Schweizer Revue»: Bis 1980 hatte der Staat vielen Kindern Leid zugefügt. Sind Sie zufrieden mit dem Erreichten in Sachen Wiedergutmachung? Luzius Mader: Ja, recht zufrieden. Vor allem, weil es im Gegensatz zu frühe- ren Anläufen überhaupt gelungen ist, den politischenAufarbeitungsprozess inGang zu bringen. Abgeschlossen ist die Aufarbeitung aber nur in politi- scher Hinsicht. Die wissenschaftliche und die individuelle Aufarbeitung dauern an. Sie mussten politisch umsetzbare Lösungen finden. Kann denn das politisch Umsetzbare für die Opfer überhaupt ausreichend gerecht sein? Weil wir etwas Konkretes erreichen wollten, war es nötig, den politischen Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen. Ein erneutes Scheitern wäre verheerend gewesen. Sie sassen mit Opfern am runden Tisch. War das schwierig? Ganz zentral war, dass wir uns zuerst um gegenseitiges Vertrauen bemüh- ten. Anfänglich war von Täterseite und Opferseite die Rede. Ich aber machte klar, dass hier nicht Opfer und Täter sitzen, sondern Leute, die zu- sammen einen Beitrag zur Aufarbei- tung leisten wollen. Für viele veränderte sich damit die Perspektive nicht: Sie mussten als Opfer beim Peiniger – also beim Staat – ihr Gesuch einreichen. Anders ging es nicht. Irgendeine staat- liche Stelle musste sich der Aufgabe annehmen. Das ist auch richtig: Der Staat soll selber hinstehen und sagen, dass Unrecht geschehen ist und er des- halb Verantwortung übernehmen will. Das ist durchaus zentral. Bis zu 20 000 Menschen hätten den Opferstatus geltend machen können. Eingetroffen sind 9000 Gesuche. Das entspricht völlig unseren Erwar- tungen. Die Zahl zeigt auch, dass die Hürden, überhaupt einGesuch zu stel- len, für dieOpfer überwindbar waren. Anerkannte Opfer erhalten 25 000 Franken: Kann dieser Betrag ein Leben voller Benachteiligung «wiedergutmachen»? Nein. Ich vermeide stets, von Entschä- digung oder Wiedergutmachung zu reden. Der Betrag ist eine Geste der So- lidarität. Eine notwendige Geste, weil eine schriftliche Bestätigung des Opferstatus nicht genügen kann. Viele Opfer haben das auch genau so ver- standen. Die vielen Dankesbriefe be- legen dies. Wer als Folge des Erlittenen so stark leidet, dass er von der Sozialhilfe lebt, wird das vermutlich auch weiterhin tun. Genau. Mit 25000 Franken kannman das Leben nicht grundsätzlich verän- dern, zumal viele der Bezugsberech- tigten bereits betagt sind. Aber der Beitrag ist steuerfrei, er führt bei- spielsweise nicht zu einer Reduktion von Ergänzungsleistungen. Der Staat soll ja in diesem Fall nicht mit der einen Hand geben und mit der ande- ren wieder kassieren. Gehandelt hat bis jetzt der Bund. Doch die Massnahmen, unter denen die Opfer zu leiden hatten, erliessen Gemeinden und Kantone. Die sind jetzt fein raus? Nein, sind sie nicht. Gemeinden und Kantone haben auch bereits vieles ge- leistet, zum Beispiel im Bereich ihrer Archive oder beimAufbau vonAnlauf- stellen. ZudemhabenGemeindenwie Bern undKöniz substanzielle Beiträge an die Soforthilfe gewährt. Acht Kan- tone haben zudembis jetzt Beiträge an die Finanzierung der Solidaritätsbei- träge geleistet. Der Umstand, dass sie sich beteiligen, ist dabei wichtiger als der Betrag. Sie wurden Ende Mai pensioniert, sind also nicht mehr stellvertretender Direktor des Bundesamtes für Justiz. Somit ist das Thema für Sie abgeschlossen? Ich werde mich weiterhin mit dem Thema befassen. Ich werde die bera- tende Kommission zu den Solidari- tätsbeiträgen weiterhin präsidieren und werde weiterhin die Interessen des Bundes bei derwissenschaftlichen Aufarbeitung wahrnehmen. * Luzius Mader war stellvertretender Direktor des Bundesamtes für Justiz und leitete den runden Tisch zugunsten der Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. «Der Betrag ist eine Geste der Solidarität» Luzius Mader* war seitens des Bundes mit der Akte «fürsorgerische Zwangsmassnahmen» betraut. Er zieht insgesamt eine positive Zwischenbilanz. Luzius Mader: «Abgeschlossen ist die Aufarbeitung nur in politischer Hinsicht.» Bild Keystone

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