Schweizer Revue 6/2018

Schweizer Revue / November 2018 / Nr.6 12 Politik JÜRG MÜLLER Die beiden gescheiterten Initiativen zielten in die gleiche Richtung. Die Fair-Food-Initiative wollte in die Ver- fassung schreiben, dass das Angebot umweltschonend, tierfreundlich und fair produzierter Nahrungsmittel aus der Schweiz und aus dem Ausland ge- stärkt wird. Sie wurde mit 61,3 Pro- zent Neinstimmen abgelehnt. Auch die Initiative für Ernährungssouverä- nität forderte eine nachhaltige, viel- fältige, gentechfreie sowie kleinbäu- erliche und eher familiäre Landwirt- schaft; die Initianten kritisierten die Marktöffnung und den starken inter- nationalen Konkurrenzdruck. Das Volksbegehrenwurde noch deutlicher abgelehnt, nämlich mit 68,4 Prozent Neinstimmen. Als kategorisches Nein zu diesen An- liegen kann das Resultat nicht gedeu- tet werden – die beiden Initiativen genossen inUmfragen vor der Abstim- mung hohe Zustimmung. Und Bio­ produkte werden in der Schweiz im- mer beliebter. Aber offenbarwollendie Konsumentinnen und Konsumenten lieber direkt imLaden entscheiden, ob sie biologisch produzierte Lebensmit- tel kaufenwollen oder nicht. Denn im Laufe der Abstimmungsdebatte ge- wannen die gegnerischenArgumente an Boden: Der protektionistische An- satz der beidenVorlagen sei problema- tisch, die Umsetzung mit bürokrati- schen Hindernissen verbunden und zudem seien internationale Handels- abkommen gefährdet, hiess es. Die Debatte um die Schweizer Agrarpoli- tik ist mit dem Doppelnein nicht zu Ende, im Gegenteil. Gleich fünf wei- tere Landwirtschaftsinitiativen sind in der Pipeline: Zur Debatte stehen in den nächsten Jahren Volksbegehren für ein Pestizidverbot, für sauberes Trinkwasser, gegen Massentierhal- tung, für ein Importverbot von tier- quälerisch erzeugten Produkten und für eine Ernährungserziehung der Jugend. Moralischer Schub für Velowege Locker schaffte es am Abstimmungs- wochenende vom 23. September hin- gegen das Velo in die Verfassung: Der Gegenvorschlag zur zurückgezogenen Veloinitiative wurde mit 73,6 Prozent Jastimmen angenommen. Der Bund koordiniert damit künftig den Bau vonRadwegen, doch es sindweiterhin die Kantone und Gemeinden, die das Sagen haben. Ob das Land nun tat- sächlich bald einmal über lückenlose Velowege verfügen wird, bleibt frag- lich. Denn der Verfassungsartikel be- inhaltet keine konkreten Vorgaben. Und eine veritable Bauoffensive zu- gunsten des Veloverkehrs zeichnet sich nicht ab. Aber die Bundesverfas- sung enthält jetzt zumindest eine Art moralische Verpflichtung dazu. Initiative will Zersiedelung stoppen Tausende Hektaren Kulturland und naturnahe Landschaften wurden in den letzten Jahrzehnten verbaut, und die Zersiedelung schreitet weiter voran. Bereits zwei Mal hat das Volk zu diesem Thema Stellung genommen. 2012 wurde eine Initiative angenommen, die den Zweitwohnungs- anteil landesweit auf 20 Prozent beschränkt, und 2014 ist das teilrevidierte Raumplanungsgesetz in Kraft getreten (siehe «Schweizer Revue» vom September 2018). Das ist mit ein Grund, weshalb Bundesrat und Parlament die Zersiedelungsiniti- ative der Jungen Grünen ablehnen: Die Arbeiten zur Umsetzung des Raumplanungsgesetzes seien in vollem Gang und zeigten auch erste Wirkung. Die Initiative kommt am 10. Februar 2019 zur Abstimmung. Ziel des Volkbegehrens ist es, eine weitere Zunahme der Bauzonen zu verhindern. Neue Bau- zonen soll es nur noch geben, wenn mindestens eine gleich grosse Fläche mit vergleichbarer Bodenqualität ausgezont wird. Damit soll vor- handenes Bauland effizienter genutzt und aus- reichend gute Böden für die Landwirtschaft erhalten werden. Die Initiative enthält auch Bestimmungen zur Siedlungsentwicklung nach innen, zu nachhaltigen Quartieren und zum Bauen ausserhalb der Bauzonen. Für die Gegner- schaft – im Parlament waren das fast alle Frak- tionen ausser den Grünen, die SP zeigte sich ge- spalten – geht das zu weit: Die Initiative sei zu starr und nehme keine Rücksicht auf kantonale und regionale Unterschiede. In der Parlaments- debatte drückten zwar alle ihre Besorgnis um das schwindende Kulturland und die wachsende Zersiedelung aus. Gleichzeitig könne man aber nicht einfach den Istzustand einfrieren und «den ländlichen Raum zum Heidiland machen», wie sich der Berner BDP-Nationalrat Hans Grunder ausdrückte. (JM) Trotz doppeltemNein: Agrarpolitik bleibt Dauerbrenner Beide Landwirtschaftsinitiativen wurden am Abstimmungswochenende vom 23. September 2018 vom Volk abgelehnt. Vom Tisch ist das Thema aber keineswegs: Gleich fünf weitere Initiativen wollen die Schweizer Agrarpolitik korrigieren.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx