Schweizer Revue 6/2018
Schweizer Revue / November 2018 / Nr.6 14 Politik anderem die achttägige Voranmeldefrist für ausländische Firmen, die Arbeiter für kurze Einsätze in die Schweiz ent- senden wollen, die sogenannte Acht-Tage-Regel. In den folgenden Jahren wird die EU je länger, je mehr auf einer Lösung der institutionellen Fragen bestehen. 2012 lässt sie die Schweiz wissen, dass es ohne Rahmenvertrag keine neuen bilateralen Verträge mehr geben wird. ImMai 2014 beginnen die Verhandlungen. Ende 2017 verliert die EU erstmals die Geduld und straft die zögerlichen Schweizer ab: Sie anerkennt die Schweizer Börsenregulierung nur für ein Jahr, die Verlängerung will sie von Fortschritten beim Rahmenabkommen abhängig machen. Der Paukenschlag löst in Bern neue Dynamik aus, man fürchtet sich vor weiteren, wirtschaftlich schädlichen Nadelstichen. Was regelt das Rahmenabkommen? Im Kern geht es um zwei Dinge: die dynamische Rechts- übernahme und die Streitbeilegung. Die bestehenden bilateralen Abkommen, mit Aus- nahme von jenem zu Schengen/Dublin, sind statisch ange- legt. Das EU-Recht entwickelt sich aber ständig fort. Die Schweiz passt ihr nationales Recht zwar schon heute regel- mässig an neues EU-Recht an, zumal dort, wo ihr dies nötig erscheint, um den ungehinderten Zugang der Wirtschaft zum EU-Binnenmarkt sicherzustellen, Beispiel: Börsen regulierung. Neu soll es aber eine institutionalisierte, eine dynamische Rechtsübernahme geben. Heute thematisieren Bern und Brüssel ihreDifferenzen imGemischtenAusschuss, einempolitisch-diplomatischen Gremium. Findet man sich nicht, gibt es keine rechtlichen Möglichkeiten, umeine Einigung zu forcieren. Politisch ist aber jede Seite frei, Retorsionsmassnahmen zu ergreifen, um Druck auf die Gegenseite auszuüben. Damit gilt letzt- lich das Recht des Stärkeren. Neu soll es eine Gerichtsbar- keit geben, um einen Streit beizulegen. In den bisherigen Verhandlungen hat man sich – auf Drängen der Schweiz – darauf geeinigt, dass das Rahmen- abkommen nur für fünf der rund 120 bilateralen Abkom- men gelten soll. Und zwar für jene, die denZugang derWirt- schaft zum EU-Binnenmarkt regeln. Es sind dies die Abkommen über die Personenfreizügigkeit, die techni- schen Handelshemmnisse, den Luft- und Landverkehr so- wie die Landwirtschaft. Auch künftige Marktzugangs abkommen sollen unter den Rahmenvertrag fallen. Zu denken ist etwa an das Strommarktabkommen, das die Schweiz gerne abschliessen würde. Wie funktioniert die dynamische Rechtsübernahme? Die Schweiz würde sich imGrundsatz verpflichten, neues EU-Binnenmarktrecht stets zu übernehmen, statt es wie bisher fallweise autonom nachzuvollziehen. Sie erhält im Gegenzug einMitspracherecht bei derWeiterentwicklung des EU-Rechts und eine ausreichend lange Frist, um ihr nationales Recht gemäss ihren direkt-demokratischen Spielregeln anzupassen. Das letzte Wort hätte folglich weiterhin das Schweizer Volk. Lehnt es die Übernahme neuen EU-Rechts in einem konkreten Fall ab, könnte die EU freilich Retorsionsmassnahmen ergreifen. Anders als heute würde der Rahmenvertrag aber sicherstellen, dass diese verhältnismässig wären. Wie sollen Streitigkeiten künftig beigelegt werden? ImVerhandlungsmandat von 2013 hatte der Bundesrat fest- gelegt, dass Streitigkeiten vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) gelöst werden sollen. Das stiess innenpolitisch jedoch zunehmend auf Widerstand. Schliesslich bot die EU der Schweiz an, statt über eine EuGH-Lösung neu über eine Schiedsgerichtslösung zu verhandeln. Damit wurde die Debatte über die «fremden Richter» entschärft, zumal das Schiedsgericht aus einem von der Schweiz und einem von der EU bestimmten Richter sowie einem gemeinsam ernannten Präsidenten bestünde. Allerdings wird auch diese Lösung nichts daran ändern, dass der EuGH für die Auslegung von EU-Recht massgebend bleibt. Wo verbleiben in den Verhandlungen Knackpunkte? Noch ungelöst sind Fragen rund um die sogenannte Uni- onsbürger-Richtlinie der EU. Die Schweiz hat es bisher ab- gelehnt, sie zu übernehmen, da sie Folgen hätte für den Familiennachzug, den Zugang zur Sozialhilfe und die Aus- weisung von EU-Bürgern. InReichweite scheint derweil ein Konsens bei der Regelung staatlicher Beihilfen. Dazu ge hören nicht nur Subventionen, sondern auch Steuerer leichterungen oder staatliche Firmenbeteiligungen, wie sie insbesondere in den Kantonen verbreitet sind. In der EU sind solche Beihilfen hingegen verpönt, sofern sie den grenzüberschreitenden Wettbewerb verzerren. Als gröss- ter Knackpunkt verbleiben jedoch die flankierendenMass- nahmen. Nähern sich hier die Positionen zwischen Bern und Brüssel nicht an, würden alle anderen Verhandlungs- erfolge der Schweiz hinfällig. Denn es gilt auch hier, was bei Verhandlungen stets gilt: «Nothing is agreed, until everything is agreed», also «nichts ist vereinbart, bis alles vereinbart ist». HEIDI GMÜR IST BUNDESHAUSKORRESPONDENTIN DER «NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG»
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