Schweizer Revue 6/2018
Schweizer Revue / November 2018 / Nr.6 15 Gesellschaft STÉPHANE HERZOG Die eritreische Diaspora ist die grösste in der Schweiz lebende Flüchtlingsgruppe und steht unter Druck. 23000 Männer und Frauen aus Eritrea leben hier mit anerkann tem Flüchtlingsstatus. 9500 wurden vorläufig aufgenom men, haben also einen sogenannten «Ausweis F», und 3000 warten auf einenEntscheid: DieWegweisungdieserGruppe ohne anerkannten Flüchtlingsstatus wurde zwar als unzu mutbar eingestuft, und dennoch findet seit diesem Som mer eine Neuüberprüfung der Dossiers statt. Diese Nach richt des Staatssekretariats für Migration (SEM) erreichte Inhaberinnen und Inhaber mit Ausweis F per Brief: «Wir beabsichtigen, Ihre vorläufige Aufnahme aufzuheben, was Ihre Wegweisung aus der Schweiz zur Folge hätte.» Das Schreiben, das zunächst an rund 200 Personen ging, versetzte die eritreische Diaspora in Aufruhr. «Die Leute, darunter auch solchemit geklärtemRechtsstatus – alsomit Ausweis B oder C –, befürchten eine Verschlechterung ihrer Situation», sagt Tzeggai Tesfaldet. Er ist ein politischer Gegner des eritreischen Regimes und zugleich Mitbe gründer zweier Genfer Flüchtlingsorganisationen. «Aus Angst haben einige Jugendliche aufgehört, zur Schule zu ge hen», berichtet Aldo Brina, der Asyl-Informationsbeauf tragte vomCentre Social Protestant in Genf (CSP). Der Verlust des F-Ausweises wäre fatal Legten die betroffenen Personen keine Beschwerde ein, er hielten sie statt Sozialhilfe nur noch Nothilfe von zehn Franken pro Tag und müssten ihre Unterkünfte verlassen, sagt Brina: «Diese Personen finden sich dann in den her untergekommenstenWohnräumenwieder. Dies ebnet den direktenWeg zur sozialenDesintegration.» Und: Sie hätten keinen Zugang zumArbeitsmarkt mehr. Für Brina, einen Fachmann in Asylfragen, zielt diese Politik vor allem darauf ab, neu in Europa eintreffende Flüchtlinge aus Eritrea in andere Länder umzulenken. «Ein mal inder Schweiz, verlassendie Leute das Landnichtmehr. Sie geraten in prekäre Verhältnisse oder verschwinden im Untergrund», analysiert er. Der zunehmend grösser werdende Kreis der Empfän gerinnen und Empfänger des Schreibens ist aufgefordert, sich beim SEM zu melden. Doch das CSP berichtet von Rückstanden bei den Überprüfungen. «In einem Pilotpro jekt erwies sich die Aufhebung der vorläufigen Aufnahme letztendlich in neun Prozent der Fälle als rechtlich ange messen und vertretbar», sagt Emmanuelle Jaquet von Sury, Sprecherin des SEM. Bisher hat es um die zwanzig Auf hebungen gegeben. Mehrere Beschwerdeverfahren sind beim Bundesverwaltungsgericht hängig. Nach Einschät Bern setzt Diktaturflüchtlinge aus Eritrea unter Druck Gegenwärtig bewertet die Schweiz die Situation der vorläufig aufgenommenen Flüchtlinge aus Eritrea neu. Es finden zwar keine zwangsweisen Rückführungen statt, doch die Diaspora fürchtet, erneut in die Ungewissheit zu stürzen. Justizministerin Simonetta Sommaruga umringt von Asyl suchenden: Besonders auf die aus Eritrea Geflüchteten macht Bundesbern vermehrt Druck. Foto: Keystone zung des SEM gilt aber: Wer den Ausweis F verliere, könne «freiwillig und ohne Gefahr für die eigene Integrität ins Heimatland zurückkehren». Wehrdienst und Vergewaltigungsgefahr Der Kurswechsel gegenüber den Eritreern wurde in meh reren juristischen Schritten vollzogen. Im Juli beispiels weise beurteilte das Bundesverwaltungsgericht den seit dem Krieg mit Äthiopien (1998–2000) verpflichtenden nationalenWehrdienst Eritreas neu. Das Gericht ist heute «überzeugt, dass Misshandlungen im Verlauf des Wehr dienstes geschehen (…), doch ist nicht erwiesen, dass diese so verbreitet stattfinden, dass jede Wehrdienst leistende Person dem ernsthaften Risiko einer Misshandlung ausge setzt ist». Auch das Vergewaltigungsrisiko für weibliche Zwangs rekrutierte wird nicht als ausreichendes Kriterium einge stuft. «Die Quellen erlauben keinen Rückschluss darauf, dass jede Frau, die den Grundwehrdienst absolviert, mit
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