Schweizer Revue 6/2018
Schweizer Revue / November 2018 / Nr.6 21 Literaturserie hier? Gerade hier; hier bin ich angewiesen auf eine be nennbare Identität wie auf eine zweite Haut.» So stehen den Erlebnissen in Trivandrum imGliedstaat Kerala, wo sie einem deutschen Aussteiger und dem Chemiker Dr. Subbarao, aber auch der kleinen Moli be gegnen, die sich ihnenwie einKlette anzuhängen versucht, immer auch Überlegungen zur Schweiz gegenüber: etwa über den 1. August und das Schweizer Nationalgefühl, und bevor sie inMadurai den Tempel der GöttinMeenakshi be suchen, benennt Hartmann dasMoment, das er 1981 in der Schweiz allen anderen vorzieht: das Baden im Gerzensee, an lauen Sommerabenden. DemAufenthalt in Broadlands, einem Lodging-House in Madras, das früher den Harem eines Nabobs beherbergte, steht das Bild des Berner Zibelemärits gegenüber, wo orangerote mechanisierte Rüsseltiere unter dem Stichwort «Haltet die Schweiz sauber» die Konfettiberge aufsaugen. InMaha balipuram aber, vor dem Beginn eines wilden Fests, steigt der Voll mond in leuchtendemOrange aus dem Meer und nimmt, «ganz un poetisch, die Farbe von Käse an; ein Camembert könnte es sein …» Die Sicht auf die Schweiz mag sich in den fast vierzig Jahren seit Erscheinen dieses Reisebuchs ver ändert haben, von ungemilderter Frische aber ist nach wie vor der spontane Blick auf ein Indien, das durch die Neugierde, die Aufnah mebereitschaft, aber auch durch den Erlebnishunger und die sinnenfreudige Erzähllust eines begabten Chronisten auf schil lernd-vitale Weise verzaubert er scheint. CHARLES LINSMAYER IST LITERATURWISSEN- SCHAFTLER UND JOURNALIST IN ZÜRICH CHARLES LINSMAYER Lukas Hartmanns Romane spielen oft in fernen Ländern. So stellt «Die Seuche» (1992) der mittelalterlichen Pest in Bern den ugandischen Aidskranken Sam Ssenyonja gegen über, während «Die Tochter des Jägers» (2002) in die kenya nischen Grosswildjagdgebiete der 1920er-Jahre führt und derMaler JohnWebber die Südsee «Bis ans Ende derMeere» (2009) bereist. In «Abschied von Sansibar» (2013) ist die Kindheit einer Prinzessin auf eben dieser Insel beschrie ben, und «Ein Bild von Lydia» (2018) spielt zu wesentlichen Teilen in Florenz und Rom. Persönlich erlebt: Indien 1980 In einem einzigen Buch hat Hartmann sich selbst in ein fernes Land geschickt: «Mahabalipuram. Als Schweizer in Indien» (1982). Die Reise fand imWinter 1980/81 statt und hatte Indien zum Ziel: ein Land, das der Autor schon im Auftrag einer Hilfsorganisation besucht hatte, dem er sich nun aber ganz privat aussetzte: im Zug, im Bus und nicht zuletzt auch als Velofahrer. Gleich bei der Ankunft in Bom bay fühlen sich er und seine Frau Silvia in ein Menschen gewühl hineingeworfen, das nichts mehr gemein hat mit dem poetischen Märchenland der Kindheit. Plötzlich stehen sie vor einer «exotischen Zerlumptheit», vor Schla fenden überall auf den Strassen, verkrüppelten Bettlern, verlieren «im Getrampel der tausend Füsse ringsum ihr eigenes Schrittmass» und werden «allmählich ununter scheidbar, Gesicht unter Gesichtern, imDunkel der Nacht». Hartmanns Sprache vermöge «der Brandung des Frem den standzuhalten», urteilte die «NZZ», «aber sie wird zu gleich auch von ihr getränkt – und eben darauf beruht zu einemwesentlichen Teil die Faszination seines Buches». Der Reisende verband mit seinem Bericht einen ganz bestimmten, persönlichenZweck: «Reisen als Aufbruch. Zu Unvertrautem? Zu sich selbst? Die Sehnsucht, Grenzen zu sprengen (innere? äussere?). Unterwegs sein, wochenlang; sichnicht festlegen lassen (und die Schwierigkeit, sichnicht festlegen zu wollen).» Auch die Schweiz im Blick Mit dieser Suche nach sich selbst hängt auch zusammen, dass ein gewichtiger Teil des Buches der fernen Schweiz ge widmet ist: «Nachdenken über die Schweiz. Ausgerechnet «Die Sehnsucht, Grenzen zu sprengen» 1982 publizierte Lukas Hartmann ein Buch über eine Indienreise, das nach wie vor zu verzaubern vermag. «Ohne die Rückzugs- und Verarbeitungsmöglichkeit des Schreibens wäre ich der Flut der Bilder, dem Intensitätsrausch Indiens hilflos ausgesetzt. Angst vor dem Ausgelöscht werden durch heranstürzende, unvertreibbare Eindrücke; Angst vor der Auflösung im Nie- Erfahrenen. Also weiterschreiben, mich den Grenzen des Noch- Erträglichen entlangschreiben.» (Aus: «Mahabalipuram. Als Schweizer in Indien», Arche-Verlag, Zürich 1982). BIBLIOGRAFIE: «Mahabalipuram» ist seit Jahren vergriffen und höchstens noch in Bibliotheken oder antiquarisch auffindbar.
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