Schweizer Revue 1/2019

Schweizer Revue / Januar 2019 / Nr.1 16 Literaturserie reiten pflegte, seine Liebe offen einzugestehen. Seine Ent­ täuschung und Frustration aber reagierte er auf demnächt­ lichenHeimweg in Prügeleienmit unbeteiligten Passanten ab, was ihm einmal ein blaues Auge und ein anderes Mal eine Geldbusse eintrug. Immerhin aber scheint sich Betty Tendering so sehr für den scheuen und ungeschickten Ver­ ehrer interessiert zu haben, dass sie auf einer Reise durch die Schweiz an der Hottinger Gemeindegasse Halt machte, umdieMutter des kuriosen Schriftstellers in Augenschein zu nehmen. EndeNovember 1855 reisteGottfriedKeller nach Zürich zurück, wo er inzwischen als Schriftsteller einiges Ansehen erworben hatte, obwohl sich von der 1855 erschienenen ers­ ten Fassung des «Grünen Heinrichs» – eine zweite, kunst­ vollere, aber auch harmlosere Variante erschien 1880 – ge­ rade mal 150 Exemplare hatten absetzen lassen. 1861 bis 1876 war er Erster Staatsschreiber der Zürcher Regierung, und als der Verfasser eines reichen Prosawerks und von vielgerühm­ ten Gedichten («Abendlied», «Win­ ternacht) am 15. Juli 1890 als Jung­ geselle starb, galt er neben Jeremias Gotthelf schon bald ein­ mal als allgemein verehrter Schweizer Nationaldichter. Betty Tendering aber heiratete einen Brauereibesitzer und starb 1902 im Alter von 71 Jahren. Wie es heisst, soll sie die Briefe, die Gott­ fried Keller ihr schrieb, vor ihrem Tod verbrannt haben. CHARLES LINSMAYER IST LITERATURWISSEN- SCHAFTLER UND JOURNALIST IN ZÜRICH CHARLES LINSMAYER Die erste Fassung von Kellers «Grünem Heinrich» endet damit, dass Heinrich Lee, aus Berlin nach Zürich zurück­ gekehrt, an der vergeblichen Sehnsucht nach dem gelieb­ ten Dortchen Schönfund zu Grunde geht und noch als Toter jenen Orakelspruch über die Wankelmütigkeit der Hoffnung in Händen hält, den ihm die Treulose gegeben hat. Keller hat die letzten Seiten seines Romans am Palm­ sonntag 1855 in Berlin «unter Tränen hingeschmiert», gab es doch jene Liebesenttäuschung, an der er seine Roman­ figur umkommen lässt, auf ebenso schmerzliche Weise auch inWirklichkeit. Berlin als «Korrektionsanstalt» Keller war 1850 in der Hoffnung, sich als Theaterdichter etablieren zu können, in die preussische Hauptstadt ge­ kommen und fühlte sich unter den Bedingungen der nach der Revolution von 1848 angebrochenen konservativen Reaktion derart unglücklich, dass ihmdie von der allmäch­ tigen Polizei beherrschte Stadt wie eine «Korrektionsan­ stalt» nach demMuster eines «pennsylvanischen Zellenge­ fängnisses» vorkam. Dennoch, und obwohl seine Theater­ ambitionen scheiterten, blieb er fünf Jahre in der Stadt und verfasste da nicht nur die schönsten seiner Seldwyler Ge­ schichten – «Romeo und Julia auf demDorfe», «Die drei ge­ rechten Kammmacher», «Spiegel das Kätzchen» –, sondern nachmehrjährigenVorarbeiten und auf erheblichenDruck des Verlegers Vieweg auch den 850seitige Roman «Der grüne Heinrich», mit dem er sich in die Weltliteratur ein­ schrieb. Prügelei aus Liebeskummer Modell für das Dortchen Schönfundwar die elegante, gross­ gewachsene zweiundzwanzigjährige Betty Tendering, die der «kleine, breitschultrige, untersetzte, eisenfeste, wort­ karge bärtigeMannmit den schönen ernsten und feurigen dunklenAugen» (so derMaler Ludwig Pietsch) imHaus des Verlegers Franz Duncker kennengelernt hatte. Wie sein Romanheld Heinrich Lee gegenüber Dortchen Schönfund wagte es auchKeller selbst nicht, der jungen Frau, die hoch zu Ross, die Peitsche in der Hand, durch den Tiergarten zu Weshalb 1855 Gottfried Kellers «Grüner Heinrich» tragisch endete Der grosse Schweizer Erzähler schrieb seine bekanntesten Werke in Berlin und war beim Abschluss des «Grünen Heinrichs» hoffnungslos in eine junge Reiterin verliebt. «Ich sage Ihnen, das grösste Übel und die wunderlichste Komposition, die einem Menschen passieren kann, ist, hochfahrend, bettelarm und verliebt zu gleicher Zeit zu sein, und zwar in eine elegante Personnage. Doch behalten Sie um Himmels Willen diese Dinge für sich.» (Gottfried Keller am 2. November 1855 an Hermann Hettner) BIBLIOGRAFIE: «Der grüne Heinrich» (erste Fassung) ist im Buchhandel in verschiedenen Ausgaben erhältlich, als Taschenbuch, gebundene Ausgabe und als eBook.

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