Schweizer Revue 1/2019

Schweizer Revue / Januar 2019 / Nr.1 9 INTERVIEW: SUSANNE WENGER «Schweizer Revue»: Herr Hermann, in den letzten drei Jahren stimmten die Briten für den EU-Austritt und feierten Rechtspopulis- ten in Europa und Übersee Wahlerfolge. Gleichzeitig musste in der Schweiz die nationalkonservative SVP zurückstecken. Wie ordnen Sie das ein? Michael Hermann: Was jetzt in ver- schiedenen Ländern zu beobachten ist, hat in der Schweiz wesentlich früher stattgefunden. Der Aufstieg der SVP begann in den 1990er-Jahren. Das Ver- hältnis zu Europa, Migration, Globa- lisierung, die Folgenwirtschaftlichen und gesellschaftlichenWandels: Diese Themen, die viele Menschen beschäf- tigen, bildeten sich wegen der direk- ten Demokratie der Schweiz rascher und unmittelbarer in der Politik ab. Volksinitiativen wurden lanciert, es kam zu heftigen und emotionalen De- batten. Gräben brachen auf. Schweizer Volksentscheide sorgten europaweit für Aufsehen. Das Minarettverbot, das Votum gegen «Masseneinwanderung», die Ausschaffung straffälliger Ausländer, das Nein zur erleichterten Einbürgerung von Secondos. Genau. Ausländische Journalisten riefen mich an und baten um Erklä- rungen. Eine britische Zeitung titelte: ‘Switzerland: Europe’s Heart of Dark­ ness’. Auch die Werbemethoden der SVP, die Grenzen ritzten, fielen auf. Dann kam der grosse Wahlerfolg der SVP 2015, der Rechtsrutsch, und doch hat sich die Situation seither beruhigt. In einem für die Schweiz typischen Reflex hat die Stimmbevölkerung eine gewisse Machtanmassung der SVP zurückgebunden. Die Schweiz zeigt sich heute wieder stärker auf Masshalten bedacht, und die Bevöl- kerung hat sich selber mehrfach ge- gen eine Ausweitung der Direktde- mokratie auf Kosten des Rechtsstaats ausgesprochen. Die Themen, die jetzt in Europa und den USA aufgebrochen sind, haben wir schon ein Stück weit abgehandelt und ins System integ- riert. Das Schweizer System sucht den Ausgleich, doch ist das Land damit noch reformfähig? Wichtige Reformen, zum Beispiel bei der Altersvorsorge, stürzten an der Urne ab. Die direkte Demokratie nimmt die Sorgen der Menschen rasch auf, baut Spannung ab, löst Konflikte. Sie hat viele Vorteile, Reformfähigkeit gehört nicht an erster Stelle dazu. Das war aber schon immer so. Bis AHV und Frauenstimmrecht eingeführt wur- den, dauerte es im europäischen Ver- gleich ewig. Was heute tatsächlich schwieriger geworden ist: Allianzen zu bilden, die den permanentenWahl- kampf überleben. Besonders die Pol- parteien SVP und SP vertreten lieber markige Positionen auf Parteilinie als den Kompromiss. Dabei sind die sach- politischenGegensätze oftnicht riesig. Bei der Altersvorsorge ging es nicht umNeoliberalismus oder Sozialismus, sondern um 70 Franken Rente mehr oder weniger. Was bedeutet das Formtief von Parteien in der politischen Mitte für die Schweiz? Weil wir kein Regierungs-Opposi- tions-System haben, geht es bei Wah- len nicht darum, eine bestimmte po- litische Kraft an dieMacht zu bringen. Die Wählerin, der Wähler kann den Supertanker nur ein wenig in die ge- wünschte Richtung lenken: etwas mehr nach links oder rechts, ein biss- chen progressiver oder konservativer, etwas grüner. Parteien in der Mitte, die wie die CVP keine klare Ausrich- tung haben, haben es da tendenziell schwerer. Ihre Stärken liegen an- derswo: beim Brückenbauen, beim Schmieden vonKompromissen.Wenn aber die Mitte immer schmäler wird, kann das den innerenKittdes Systems aushöhlen. Warum vermag die Sozialdemokratie in der Schweiz ihren Wähleranteil zu halten, während sie in Europa vielerorts einbricht? ImGegensatz zu anderen Sozialdemo- kratien in Europa positionierte sich die SP Schweiz nach der Jahrhundert- wende deutlich links und blieb dabei. Das gab ihr ein klares Profil. Schon viel früher nahm sie ökologische und ge- sellschaftliche Themen auf und er- schloss sich neue Wählerschichten, dadurch war sie weniger von klassi- schen Arbeitern abhängig. Zudem musste die SP im Schweizer System nie volle Regierungsverantwortung tragen. Sie ist zwar imBundesrat, kann aber auch als Opposition auftreten. «Die direkte Demokratie nimmt die Sorgen der Menschen rasch auf, baut Spannung ab, löst Konflikte. » In Ländern, wo Rechtspopulisten erstarken, werden Sorgen um die Demokratie laut. Es gibt Angriffe auf die Presse, gegen das «Establishment», Hetze und Desinformation im Netz. Die Schweiz hingegen: immer noch das Musterland der Demokratie? Die Schweiz ist ein gefestigtes Land, es geht uns wirtschaftlich gut. Das Sys- tem verhindert, dass autoritäre Figu- ren oder bestimmte Parteien zu gross werden. Doch auch die Schweizer De- mokratie hat Probleme. Das Milizsys- tem erodiert, im Parlament sitzen zahlreiche Lobbyisten. Bei der Partei- enfinanzierung fehlt die Transparenz, die Beträge sind gegen oben offen. Und das Mediensystem bröckelt in ra- schemTempo, weil denZeitungen das Geschäftsmodell wegbricht. Dabei war die fein verästelte Medienland- schaft immer einwichtiger Teil der fö- deralen Schweizmit ihren verschiede- nen Regionen.

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