Schweizer Revue 2/2019

Schweizer Revue / März 2019 / Nr.2 30 Das ist mal eine CD – giftgrün glänzt diese Silberscheibe! Also eigentlich nicht gift-, sondern grasgrün. Und kaum das Optische bestaunt, gehts auch schon los mit den akus- tischen Reizen: «Guggisberglied», «Le vieux Chalet», «Liauba» – alle zauberhaften Schwei- zerWunderlieder vereint. Daswäre fast schon normal, würde auf dem CD-Cover der Name Gölä oderMaja Brunner stehen. Aber hierwer- den diese Kostbarkeiten vom Schweizer OpernstarMarie-Claude Chappuis gesungen: Bisweilen sanft begleitet von der Gitarre, urchig vom Alphorn oder herzerwärmend schön von der Handorgel. Und immer wieder mal prächtig untermalt von denMännern des «Chœur des Armaillis de la Gruyère». Wie anders diese Sängerin kann, zeigte sie 2017: Allein von einer zarten Laute begleitet, liess sich Chappuis auf ihrer CD «Sous l’em- pire de l’amour» begleiten. Das konnte diese Mezzosopranistin wa- gen, weil sie eine ungemein schöne wie sinnliche, bewegliche und ausdrucksstarke Stimme besitzt. Und so wurden denn die französi- schen Lautenlieder über das Liebesglück aus dem 17. Jahrhundert zu hochemotionalen Miniaturen. Es war wohl ein Höhepunkt auf ihrem so zielgerichteten Weg, dessen Lehrjahre im Landestheater Tirol stattfanden. Dort durch- lebte Chappuis im Schnellzug ein Sängerinnenleben. Ihr Glück war es, dass Brigitte Fassbaender – einst Opernsängerin, dann Intendan- tin in Innsbruck – ihr so viel Vertrauen schenkte. «Das gab mir viel Selbstbewusstsein. Ich konnte rasch erfahren, wie man mit der Stimme bei grösseren Rollen umgeht.» Dann trat sie auf die Welt- bühnen und die Barockmusik wurde ihre Welt. «Dadurch hatte ich die Möglichkeit, mit ganz grossen Dirigenten und mit den besten und schönsten Orchestern der Welt zusammenzuarbeiten.» Wer auf CDdie Schweizer Lieder hört, weiss nie, ob er oder siemit- singen oder bloss staunen soll über diese Pracht: Auf der einen Seite ist da die Selbstverständlichkeit, Natürlichkeit und Leichtigkeit von Chappuis’ Gesang, auf der anderen ihre Kunstfertigkeit. Stolz vermel- dete Sony vor Weihnachten, dass sich das neue Album in den Top 20 vonRadio SRFMusikwellewiederfand. Immerhin auf Platz 8, nur zwei Positionen hinter einem gewissen Gölä. CHRISTIAN BERZINS «Mer porteuse», Didier Burkhalters drittes Werk, entstand am Neuenburgersee. Die po- etische Prosa dreht sich umAbstammung und die Macht unserer familiären Wurzeln. Eine Hauptrolle in dieser Geschichte eines zurück- gelassenenKindes spielt der Atlantik, Symbol der Trennung, aber auch der Verbindung zwi- schen den Menschen. Der Altbundesrat schreibtmit geschliffener Feder, so etwa inder Passage, in der die Rauchwolken eines Ozean- dampfers das Schiff mit dem Himmel verbin- det, «als ob es sich fürchtete, von den Tiefen verschlungen zuwerden». Der Schwachpunkt: eine gewisse Trägheit oder Schwülstigkeit in der Formulierung, welche die Indifferenz als «haarsträubend» und denOzean überdeutlich als «Ozean der Verzweif- lung» zu erkennen gibt, der eine der Romanfiguren überwältigt. Es fällt schwer, der Versuchung zu widerstehen, in der Prosa des ehemaligen Bundespräsidenten und Aussenministers nach seiner liberalen politischen Einstellung zu suchen. So wird Enor, der Nach- komme einer Ahnenreihe, die sich im Meer verliert, Anwalt, jedoch «ohne seine Grundwerte zu verraten». Der Norm entsprechend, ent- stammt er einer Familie, die Häuser renoviert und dabei «Unterneh- men Arbeit gibt, die jungeMenschen undMigranten einstellen». Wie es sich gehört, werden diese Wohnungen vorzugsweise an Familien vergeben. Verdienst, Familie undMenschlichkeit: So lautet das Kredo, das diese Seiten beseelt. Was die spirituelle Seite des Romans betrifft, so wird diese in Form einer personifizierten Welle umgesetzt. «Ver- teilt unterMyriaden vonWassertropfen, die für ebenso vielewinzige Leben stehen, kehrt siemit den Strömungen der Tiefe zurück, um ihre Wunden zu pflegen […]», so stellt es sich der Autor vor. Diese gezielte Lesart verschwindet jedoch zeitweise dank Didier Burkhalters Lyrik, seiner Liebe zu Orten amMeer, z. B. zumDeparte- ment Finistère, aber auch dank eines originellen Aufbaus und seiner Fähigkeit, Mysterien zu schaffen und Spannung zu erzeugen. Es ist eine Geschichte über das Waisenkind Gwellaouen und über Kaelig, zwei europäische Migranten, die sich im Zeitalter der Revolutionen Richtung neueWelt aufmachen. Wie stellt sie sich ihren zukünftigen Ehemann vor? «Er ist anders als die anderen, die sie taxieren, sie wie eine schöne Blume betrachten, die sie pflücken können, um sie ohne Liebe zu besitzen, kurz, um sie dann langsam, ohne Hoffnung in ei- nemstagnierenden Leben verwelken und schliesslich vertrocknen zu lassen. Eine Blume, die nie ihr eigenes Beet hatte, herausgerissen und beschnitten, die niemals nachwachsen wird.» STÉPHANE HERZOG Urchig, zart und herzerwärmend Seefahrerliteratur aus der Feder des Staatsmannes Gehört Gelesen MARIE CLAUDE CHAPPUIS & FRIENDS: Au cœur des Alpes, Volkslieder aus der Schweiz, Sony 2018 DIDIER BURKHALTER: «Mer porteuse». Editions de l’Aire, 2018, 194 Seiten CHF 24.00, Euro 24.00

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