Schweizer Revue 2/2019

Schweizer Revue / März 2019 / Nr.2 8 Schwerpunkt der Hausarzt von früher, passe nicht mehr ins Konzept der Jüngeren, sagt Streit. Sie ziehen geregeltere Arbeits­ zeiten vor. Um Beruf und Familie zu vereinbaren, möchten viele Teilzeit arbeiten. Der Frauenanteil bei den Ärzten wächst, im Medizinstudium haben sie die Männer zahlenmässig überflügelt. Wohl auch deshalb erhal­ ten Gruppenpraxen immer mehr Zu­ lauf. Dort können sich Ärztinnen und Ärzte Arbeit, Notfalldienst, Infrastruk­ tur und Administration teilen. Noch sind über dieHälfte der Arztpraxen in der Schweiz Einzelpraxen, doch die Zahl der Gruppenpraxen hat sich in den letzten Jahren verdreifacht. «Der Strukturwandel wird sich fortsetzen», ist Streit überzeugt. Auch ältere Ärzte entdecken die Vorteile der Gruppenpraxis, unter ih­ nen Philippe Luchsinger, Präsident des Verbandes Haus- undKinderärzte Schweiz. Die Praxis, die er vor über 30 Jahren in Affoltern am Albis (ZH) übernahm, betreibt er heute als Grup­ penpraxis. Er sagt: «Wir müssen uns vom Bild des Hausarztes als Einzel­ kämpfer verabschieden.» Die Haus­ ärztin, der Hausarzt von morgen ar­ beite im Team und suche dabei auch die Zusammenarbeit mit nichtärztli­ chenGesundheitsberufen: Pflegefach­ personen, Physiotherapeutinnen, Apothekern. Das Volk lehnte 2012 zwar eine «Managed-Care»-Vorlage wuchtig ab, doch Fachkreise sind überzeugt: In der koordinierten Ver­ sorgung liegt die Zukunft. Pflegeexpertin statt Arzt Wie sieht so eine Zusammenarbeit konkret aus? In der ländlichen Ge­ meinde Schüpfen (BE) gibt die Grup­ penpraxis «Medizentrum» einBeispiel ab. Dort ist nebst mehreren Hausärz­ ten auch Pflegeexpertin Christine Wyss tätig. Als Pflegefachfrau mit Master-Abschluss hat sie erweiterte Kompetenzen. «Ich kümmere mich vor allem um ältere und chronisch kranke Patienten, die über längere Zeit Betreuung benötigen», sagt sie. Sie führt Sprechstunden durch, verab­ reicht Infusionen, misst Puls und Blut­ druck, bespricht Laborresultate, berät die Patienten. Bei nicht mehr so mobi­ len Älteren macht sie Hausbesuche. Ihr Aufgabengebiet reicht in das tradi­ tionell Ärztliche hinein, doch sie be­ wegt sich innerhalb des vomArzt fest­ gelegten Behandlungsschemas. «Dafür ist sie in anderen Bereichen viel kompetenter als ich», sagt der lang­ jährige Schüpfener Hausarzt Hansul­ richBlunier. Die Pflegeexpertin könne Patienten imalltäglichenUmgangmit der Krankheit coachen. Und der Haus­ arzt, von Aufgaben entlastet, könne sich vermehrt komplexeren Fällen widmen. Im «Medizentrum» sind un­ ter anderemMagen-Darm-Spiegelun­ gen undChemotherapienmöglich. So werde der Hausarztberuf aufgewertet, sagt Blunier. Die Schüpfener leisten Pionierarbeit, denn ein offizielles Be­ rufsbild für die Pflegeexpertinnen existiert in der Schweiz noch nicht. Auch ein Abrechnungstarif fehlt. Nun hat der Kanton Uri mit seinen vielen Talschaften, wo der Hausärztemangel besonders gross ist, ein dreijähriges Pilotprojekt mit Pflegeexpertinnen gestartet. Virtueller Hausarzt? Oder ist die Hausarztpraxis der Zu­ kunft online? Ja, sagt der Facharzt AndreaVincenzoBragawährend eines Skype-Anrufs. Braga istmedizinischer Leiter des seit 2017 aktiven Berner Jungunternehmens «eedoctors». Er urteilt: «DigitaleAngebote können zur ambulanten Grundversorgung beitra­ gen.» Patienten erreichen die «eedoc­ tors» via Smartphone-App. Die Bera­ tung erfolgt über Video-Chat. Rezepte undVerordnungenwerdendirekt aufs Handy geschickt. «Wir springen dort ein, wo der Hausarzt nicht ist», sagt Braga: in den Ferien, in Gegenden mit ausgedünntem Hausärztenetz. Auch für Berufstätige mit knappem Zeit­ budget sei das Angebot praktisch, zu­ mal Arbeits- und Wohnort heute oft getrennt seien. Über zwanzig Ärztin­ nenundÄrzte arbeitenbei den «eedoc­ tors» – von zuhause aus. Die Grundver­ sorgung müsse sich der Zeit anpassen, sagt Braga, denn bei vielen hausärztli­ chen Konsultationen brauche es gar keinen physischen Kontakt. Neue Kommunikationskanäle, neue Praxismodelle: In der Schweiz mit ihren vielfältigen Regionen brau­ che es wohl verschiedene Lösungen, sagt Hausarztmedizin-Professor Sven Streit: «Nicht für jede Region passt das Gleiche.» Bei der Hausärzteknappheit sieht er die Trendwende eingeläutet. Auch Hausärztepräsident Philippe Luchsinger freut sich über das gestei­ gerte Interesse der Jungen: «Die Haus­ arztmedizin ist wieder sexy.» Zurück­ lehnen dürfe sich die Schweiz aber nicht. Bis die Medizinstudierenden, die Richtung Hausarzt gehen wollen, in die Praxis kommen, dauert es noch Jahre. So lange bleibe der Mangel spürbar. Philippe Luchsinger zur Erkenntnis der älteren Ärztegenera- tion: «Wir müssen uns vom Bild des Hausarztes als Ein- zelkämpfer verab- schieden.» Foto zvg

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