Schweizer Revue 3/2019

Schweizer Revue / Mai 2019 / Nr.3 17 Literaturserie der einsame Schweizer denVerlust von Esther nicht zu ver­ schmerzen und gerät noch tiefer in seinenKummer hinein, als er bei einemAufenthalt inZürich von Esthers Heiratmit seinemRivalen Kenntnis nehmen muss. Wer allerdings Guggenheims unveröffentlichte Tage­ bücher konsultiert, entdeckt, dass die Geschichte vom zur Liebe unfähigen traumatisiertenVerlassenen eine jener Er­ findungen ist, die denRomanbesonders berührend machen, aber mit der Wirklichkeit wenig gemein haben. Ausser in Eva Hug, das Modell der Romanfigur Esther, ist der Volon­ tär auch in die etwas ältere Angéline Savoy verliebt, die im November 1919 aus Zürich nach Le Havre reist und zwei Wochen mit ihm in einem Hotel lebt, so dass er dann «mit süsser Schmerzlichkeit» an die verflossenen 14 Tage zurück­ denkt und sie «eine 14tägige Ehe» nennt. 1920 ist Angéline weitere drei Monate bei ihm, bis es ihm dann selbst zu viel wird und er sich im April 1920 doch noch «für eine lange Periode leiden­ schaftlicher Einsamkeit» einrich­ tet und die Liebe zu Eva Hug erst­ mals literarisch aufarbeitet. Guggenheim muss die zwei Jahre Le Havre so intensiv erlebt haben, dass sie sich ihm in der Er­ innerung verdoppelten und er 1955 von vier Jahren sprach. Eine Zeit jedenfalls, die für ihn nicht nur der Entdeckung Frankreichs wegen entscheidendwar, sondern weil er jede Menge Stoff für sein Schreiben sammeln konnte, das er ganz bewusst und voller Raffi­ nesse als «Auswahl und neue Zu­ sammensetzung von Erinnerung» betrieb. CHARLES LINSMAYER IST LITERATURWISSEN- SCHAFTLER UND JOURNALIST IN ZÜRICH CHARLES LINSMAYER «Die Gesichter von Zürich ekelten mich an», notierte Kurt Guggenheim, 23, im September 1919 in Le Havre ins Tage­ buch. Der junge Kaufmann hatte drei Jahre lustlos und frustriert in Vaters Kaffeeimportfirma gearbeitet, bis die­ ser ihmein Stage in einer Kaffeerösterei in Le Havre ermög­ lichte. «Entfesselung» wird 1934 Guggenheims Debüt­ Roman heissen, in demder Aufbruch eines jungenMannes aus den bürgerlichen Fesseln der Vaterstadt beschrieben ist. 1964 aber, in «Salz des Meeres, Salz der Tränen» wird er den zwei Jahren Normandie eine ganz andere Bedeutung abgewinnen. Da geht der jungeMannnach Frankreich, weil er den Schmerz über die Trennung von Esther, der zentra­ lenGestalt des Romans «Die frühen Jahre», verwindenwill, so dass zumSalz des Meeres das Salz seiner Tränen umdie Geliebte hinzukommt. «Ich lebte ohne Liebe. Seit dem 21. Juli 1918, dem letzten Datum auf dem Vorblatt von Esthers Tagebuch», heisst es in dem Roman, «und von die­ sem Tage an war ich der Liebe nicht mehr fähig.» Frankreich als Offenbarung Umso offener aber war der junge Schweizer für die Ein­ drücke, die er sonst in LeHavre empfing. ImKreis umLouis Dupuis, seinen Arbeitskollegen auf demKontor der Firma Rauber, lernte er die Leichtlebigkeit kennen, die die fran­ zösische Jugend der Nachkriegszeit auszeichnete. Mit Hin­ gabe wandte er sich in einer «wahllosen, gierigen Leserei» der französischen Literatur von Pascal undMaupassant bis Zola und Proust zu, die ihm zumbleibenden Besitz wurde, während er in der Sprache Frankreichs eine geistige Hei­ mat fand, die es ihm, dem Juden, in der Zeit des National­ sozialismus ermöglichen sollte, demTagebuch Persönlichs­ tes anzuvertrauen, ohne das von antisemitischen Hetzern korrumpierteDeutsch zu verwenden. Auch dieMalerei des Impressionismus beeindruckte ihn so sehr, dass es ihm1972 möglich seinwürde, eines seiner bewegendstenWerke, den Roman «Minute des Lebens» über die Freundschaft von Cézanne und Zola, zu schreiben. Und noch 1980 konnte er konstatieren: «Hätte ich die französische Sprache nicht, mir mangelte die halbe Welt.» Liebesnächte statt Sublimation Wie aber ging es weiter bei jenem Aufenthalt von 1919/20 in Le Havre? In «Salz des Meeres, Salz der Tränen» vermag Dichtung undWahrheit amÄrmelkanal Ein Aufenthalt in Le Havre begeisterte Kurt Guggenheim 1919/20 für Frankreich und ernüchterte ihn in Sachen Liebe. «Ohne es zu wissen, hatte ich sehr bald angefangen, dieses Land mit den Augen der impres- sionistischen Maler zu sehen. Die Landschaft der Seine, des Hafens auf eine andere Weise als ein Sisley, ein Pissarro, ein Monet zu erleben, schien mir nicht möglich. Auch ihre literarischen Zeitgenossen bestimmten für mich das Bild vieler Orte.» (Kurt Guggenheim: «Salz des Meeres, Salz der Tränen», zitiert nach der Werkausgabe, Band 1, Reprinted by Huber, Nr. 4, Frauenfeld, 1989) BIBLIOGRAFIE: Alle erwähnten Werke sind in der Kurt-Guggenheim-Werkausgabe im Verlag Th.Gut, Zürich, greifbar.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx