Schweizer Revue 3/2019

Schweizer Revue / Mai 2019 / Nr.3 30 «Zusammen mit jungen Menschen, deren Mütter mich als Rockstar kannten, die Szene aufmischen.» So fasst der 58-jährige Stephan Eicher sein neustes Werk vor den Medien zu- sammen. «Hüh!» geht einWagnis ein: ein von Natur aus lautes Orchester, kombiniert mit dieser sanften Stimme, dem Markenzeichen des Berner Crooners. Die Verkaufsargumente? «Im September 1978 stieg Stephan in den Nachtzug von Bern nach Paris ... 40 Jahre spä- ter wird er schliesslich von einemGeheimnis aus der Vergangenheit eingeholt ...» In augenzwinkernder Anspielung auf ein Album des französischen Sängers Alain Bas- hung grenzt das Plattencover ans Morbide. Das durchnässte Konfetti steht laut Eicher symbolisch für eine verdorbene Plattenindustrie, die feststellt, dass «die Party vorbei ist». Die zwölf Songs auf «Hüh!» – acht Covers und vier Eigenkompositionen – oszillieren zwischen hüpfen- den Rhythmen und intimen Balladen. Die Produktion verbindet die süsse Torheit des balkanmusikbegeisterten Berner Orchesters «Trak- torkestar» mit den ausgefeilten Texten des nationalen Rockers, ohne diesen den Raum zu nehmen. Eicher lässt sein Orchester zwei seiner grössten Hits neu auflegen: «Pas d’ami (comme toi)» und «Combien de temps». Die echte Emotion und Poesie dieses Albums verstecken sich z. B. in «Chenilles». DieEigenkompositioneröffnetmit einemKlangtep- pich aus Blechinstrumenten und entwickelt sich über eine Folk-Gitar- renbegleitungweiter. Der Bass der Tuba brummt tief, undder Zuhörer wird ingedämpftes Licht gehüllt –dasselbe Licht, das das ganzeAlbum erhellt. «Wohin du auch gehst, wo du auch bist / Das Überflüssige, das Notwendige, wie Leim, der an den Fingern klebt», singt Eicher. Als Ouvertüre dieses 15. Studioalbums, das nach sechs Jahren Streit zwischen Eicher und seinem Plattenlabel sowie Gesundheitsprob­ lemen im Jahr 2018 entstanden ist, besitzt «Ce peu d’amour» dieses rockige Flair der Schlager jenischer Musiker. Dieses Mal aber wartet Traktorkestarmit einer Explosion der Blechinstrumente imStil einer Zigeunerband auf. «Louanges», ein weiteres Cover, spielt sich in ähn- licher Façon ab. Der Künstler beschwört verlorene Liebe, den Lauf der Zeit herauf. «Nocturne» beendet das Album in dämmriger Stimmung. «Endlich Ruhe, es wird Nacht und alles ist ...» Alles ist was? «Alles ist ... gesagt», schliesst Stephan Eicher. Der Epilog gehört den Bläsern. STEPHANE HERZOG Seit 171 Jahren ist die Schweizer Regierung ohne auch nur einen einzigen TagUnterbruch imAmt. Sie ist nie vollständig ausgewechselt, sondern immer nur durch einzelne Mitglie- der ergänzt worden. Das ist «eine Kontinuität, wie sie sonst nur in Monarchien vorkommt». In der Bevölkerung sind die Bundesrätinnen und Bundesräte denn auch «so etwas wie re- publikanische Royals». Das schreibt Urs Alter- matt als Herausgeber des 1991 erstmals publi- zierten und jetzt in einer überarbeiteten und aktualisierten Fassung vorliegenden Bundes- ratslexikons. Das Buch gilt als Standardwerk der Bundesratsgeschichte und Referenzwerk für Verwaltung, Politik, Medien undWissenschaft. Altermatt ist emeritierter Professor für Zeitgeschichte an der Uni- versität Freiburg und gilt als bester Kenner des Themas. Er hat 93 hochkarätige Autorinnen und Autoren um sich versammelt, die für jedes der bisher 119Mitglieder des Bundesrates seit der Bundesstaats- gründung 1848 nach einem lexikalisch vorgegebenen Raster ein ein- drückliches, lebendiges Bild von ihrenWahlen, ihren Rücktritten, ih- rer Herkunft und ihremWirken zeichnen. Das sorgfältig illustrierte und mit verschiedenen Tabellen angereicherte Werk ist nicht allein ein wissenschaftliches Lexikon, es ist auch ein faszinierendes histo- risches Lesebuch, dargestellt anhand jener Institution, die nach Ein- schätzung vonAltermatt «ohne Zweifel die originellste Schöpfung des politischen Systems der Schweiz» darstellt. Das Bundesratslexikon vermittelt über das rein Biografische hin- aus einenÜberblick über 170 Jahre Schweizer Geschichte und gewährt überraschende Einblicke – in einzelnen Fällen auch in persönliche Tragödien. Da ist zumBeispiel der Berner Bundesrat Carl Schenk, der täglich zu Fuss ins Bundeshausmarschierte. Als er am8. Juli 1895 früh- morgens am Bärengraben vorbeikam und, wie er es oft tat, einem ar- men Mann ein Almosen zusteckte, wurde er von einem Pferdefuhr- werk überfahren und starb kurz darauf, nach 31-jähriger Amtszeit. Ebenfalls im Amt verstarb der Thurgauer Bundesrat Fridolin Ander- wert. Unmittelbar nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten setzte eine gehässige Pressekampagne mit Vorhaltungen zu seinem Privat- leben ein, zudem hatte er gesundheitliche Probleme. Jedenfalls er- schoss er sich am25. Dezember 1880, amWeihnachtstag, auf der Klei- nen Schanze in der Nähe des Bundeshauses. JÜRG MÜLLER Nostalgie mit Pauken und Trompeten Helvetias republikanische Royals: das Lexikon Gehört Gelesen STEPHAN EICHER «Hüh!» Pop UM-France, 2019 URS ALTERMATT (HRSG.): «Das Bundesratslexikon», NZZ Libro, Zürich 2019, 759 Seiten, CHF 98.–.

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