Schweizer Revue 4/2019
Schweizer Revue / Juli 2019 / Nr.4 14 Gesellschaft MARC LETTAU Die Sache, umdie es geht, betrifft gutverdienende Ehepaare. Sie zahlen mehr Bundessteuern als unverheiratete Paare mit dem genau gleichen Einkommen. Diese sogenannte Heiratsstrafe ist seit Jahren ein Politikum. EinenAnlauf, die Heiratsstrafe zu eliminieren, unternahm die Christliche Volkspartei (CVP) mit ihrer etwas sperrig getitelten Volks initiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe». Doch die Initiative scheiterte 2016 an der Urne. 50,8 Pro zent legten ein Nein ein. Mehr als knapp daneben 55000 Stimmenmachten denUnterschied. Die Niederlage war also knapp. Allerdings nannte der Bundesrat vor der Abstimmung falsche Zahlen. Er behauptete, schweizweit treffe die Heiratsstrafe bloss 80000 Doppelverdienerehe paare. Später räumte er ein, sich gründlich verschätzt zu haben – um Faktor fünf. Inzwischen gelten 450000 Ehe paare als steuerlich benachteiligt. Aufgrund dieses Einge ständnisses reichte die CVP schliesslich eine Abstimmungs beschwerde ein. Historische Dimension Das am 10. April 2019 gefällte Bundesgerichtsurteil in die ser Sache ist von historischer Dimension. Das Gericht hiess die Beschwerde gut und annullierte den Volksentscheid. Das ist eine Premiere, die erste Annullierung eines natio nalen Volksentscheids seit der Gründung des modernen Bundesstaates im Jahre 1848. Die Bundesrichter beurteil ten die Fehlinformation des Bundesrats als «gravierend». Es liege eine «geradezu schockierende Verletzung» der Abstim mungsfreiheit vor. Eine Verfälschung des Abstimmungser gebnisses sei vor diesemHintergrund «wahrscheinlich». «Eine Ohrfeige für den Bundesrat» titelte nach dem Ur teil die «Neue Zürcher Zeitung». Die Blätter des Tamedia Konzerns hingegen werteten den Richterspruch als Gütesiegel für die schweizerische Demokratie, denn letzt lich seiendie Rechte der engagiertenBürger gegenüber dem Verwaltungsapparat gestärkt worden. Was nun? Wird die Initiative erneut dem Volk vorgelegt? Das ist keineswegs zwingend. Die CVP selbst ist nicht an einer er neutenVolksabstimmung interessiert. Der Initiativtext ist nämlich inzwischen innerhalb der Partei umstritten, denn er diktiert eine sehr eng gefasste Definition von Ehe als «ge setzlich geregelte LebensgemeinschaftvonMannund Frau». Das geht jenem Teil der CVP-Basis zu weit, der der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare aufgeschlossen begegnet. Bei den Initianten dominiert vor diesem Hintergrund die Hoffnung, die Heiratsstrafe möge auf gesetzlichem Weg abgeschafft werden. Damit würde eine zweite Volks abstimmung über die Initiative obsolet. Unbegründet ist die Hoffnung nicht, denn einen Monat nach demGerichts urteil hiess der Nationalrat eine Standesinitiative des Kantons Aargau gut. Deren Forderung: Nicht nur bei den Steuern, sondern auch bei den Sozialversicherungen sei die Benachteiligung verheirateter Paare zu beenden. Diese erhalten heute im Alter eine reduzierte Ehepaarrente, die tiefer liegt als zwei Einzelrenten für ein Paar, das ohne Trauschein zusammenlebt. Das istmindestens so stossend wie die steuerliche Heiratsstrafe. Ein klares Urteil mit unklaren Folgen Erstmals ist in der Schweiz eine nationale Volksabstimmung gerichtlich annulliert worden. Ist das primär eine Ohrfeige für den Bundesrat oder ein Beweis für die Kraft der Demokratie? Die Meinungen sind geteilt, die Folgen des Urteils unklar. Auf die süsse Hoch- zeitstorte folgt in der Schweiz zumindest für solvente Doppel- verdienerehepaare die steuerliche Hei- ratsstrafe. Foto Keystone
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