Schweizer Revue 5/2019

Schweizer Revue / September 2019 / Nr.5 8 Aescher-Wildkirchli im Kanton Ap- penzell-Innerrhoden, das bei Ins- tagram-Touristen aus aller Welt zum Fotosujet wurde. Das winzige Gast- haus hielt dem Andrang nicht stand, die damaligen Pächter gaben 2018 auf. All dies führt dazu, dass negative Be- gleiterscheinungen des Massentouris- mus in der Schweiz vermehrt unter dem Begriff «Overtourism» öffentlich teilt. Berggebieten im Wallis und Graubünden abseits der von interna- tionalen Pauschalanbietern ange- steuerten Ziele fehlten nach wie vor Gäste. Die Nachfrage bei den Euro- päern liegt immer noch unter dem Stand von einst. Sie gilt es laut Zen- häusern zurückzugewinnen. Denn die Kehrseite des «Overtourism» zeigt sich in gewissen Gegenden «Allewollen an die gleichen schönenOrte» Wachsende Märkte in Asien, soziale Medien und das typische Touristenverhalten: Das sind laut dem Luzerner Tourismusforscher Jürg Stettler Ursachen von Massentourismus. «Schweizer Revue»: Jürg Stettler, gibt es in der Schweiz «Overtourism»? Jürg Stettler: An einigen Orten zeigen sich ähnliche Entwicklungen wie in den oft kol- portierten Beispielen Venedig, Barcelona und Amsterdam, aber noch nicht im glei- chenAusmass. Ein objektiver Schwellenwert existiert allerdings nicht. Wir können Indi- katoren messen, etwa die Anzahl Touristen imVerhältnis zur Bevölkerung. Doch wann die Grenze zum «Overtourism» erreicht ist, ist eine Frage der Perspektive und der sub- jektivenWahrnehmung. Das ist nicht mehr meine Stadt, sagenAnwohner in Luzern und Interlaken. Gleichzeitig finden Inhaber von Souvernirshops: Toll, dass so viele Touristen kommen. Dichtestress, verdrängter Wohnraum, nur noch Souvenirshops: Kann man das Phänomen «Overtourism» nicht an den Folgen festmachen? Das sind Kriterien, ja, aber auch sie werden unterschiedlich wahrgenommen. Und die Städte haben ja nicht flächendeckend ein «Overtourism»-Problem. Ichwar letztes Jahr im Sommer in Venedig an einer Konferenz. Venedig in der Hochsaison? Ein No-Go, dachte ich aufgrund der medialen Darstel- lung. Und tatsächlichwar es an gewissenOr- ten zu bestimmten Tageszeiten extremdicht. Was ich jedochnicht erwartet hatte: Hundert Meter neben den Hotspots fand ich men- schenleere, entspannte Plätzchen vor. Übertreiben wir Medien mit dem «Overtourism»? Nein, nur läuft die Diskussion oft verkürzt und auch faktenfrei. Uns fehlen Daten, um eine qualifizierte Einschätzung abgeben zu können. Ich will nicht verharmlosen, bloss den Blickwinkel öffnen. Was sind die Ursachen des Massentourismus? Hauptursache sind die global wachsenden Tourismusströme. In grossen Märkten, na- mentlich China und Indien, können sich im- mer mehr Leute das Reisen leisten. Dazu kommt: Allewollen an die gleichen schönen Orte. Das ist kein aussergewöhnliches Rei- severhalten, dasmachen auch die Schweizer so. Mit derMenge kann es aber zumProblem werden. Drittens: die sozialen Medien. Die Touristen feiern ihre Reisenmit Fotos auf In- stagram, Reiseblogger publizieren Bucket­ Listen. Was dazu führt, dass noch mehr Leute hingehen. Eintrittsgelder erheben, Car-Parkplätze verteuern, Touristenströme umlenken, Airbnb einschränken: welches sind wirksame Massnahmen? VieleMassnahmen sind in historischen Städ- ten gar nicht umsetzbar, oder ihreWirkung ist beschränkt. Vielmehr braucht eine Des- tination ganz grundlegend eine Vorstellung davon, welchen Tourismus sie in Zukunft habenwill. Dabei sollten alle Akteure einbe- zogenwerden, damit sie später in die gleiche Richtung ziehen. Der Tourismusdirektor von Luzern kann noch lange auf Qualitäts­ tourismus setzen – wenn eine Bergbahn oder ein Uhrengeschäft trotzdem günstige Verträge mit chinesischen Tour-Operators aushandelt und auf Menge setzt, ändert sich nicht viel. Es ist nicht leicht, die Anspruchs- gruppen zu managen, doch ich sehe keine Alternative. Sonst regt sich früher oder spä- ter Widerstand gegen die Touristen, in der Bevölkerung, mit politischen Vorstössen. Und dann kommt es zu harten Regulierun- gen, wie zumBeispiel demVerbot vonAirbnb. Welche nicht überlaufene Destination empfehlen Sie Auslandschweizerinnen und -schweizern, die in der Schweiz Ferien verbringen möchten? Überall dort, wo man nur zu Fuss oder mit demVelo hinkommt, ist dieWahrscheinlich­ keit gross, zu bestimmten Tageszeiten eine versteckte Perle vorzufinden. Exemplarisch nenne ich die Fräkmüntegg amPilatus, zwi- schen denKantonen Luzern undNidwalden. Wer sich dort vor Sonnenuntergang hinauf- begibt, geniesst Ruhe und Aussicht. Aber bitte kein Foto auf Instagram posten! Jürg Stettler ist Professor an der Hochschule Luzern. Er leitet dort das Institut für Tourismuswirtschaft. diskutiert werden. Sogar der Schwei- zer Tourismus-Verband, der die Inter- essender Branche vertritt, erarbeitete jüngst ein Positionspapier dazu. Doch Verbandsvertreter Robert Zenhäusern relativiert: «Das Phänomen tritt in der Schweiz nur sehr punktuell an einigen wenigen Hotspots auf.» Zenhäusern sagt, die Touristen seien in der Schweiz ungleich ver- Schwerpunkt

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