Schweizer Revue 6/2019

15 Schweizer Revue / November 2019 / Nr.6 Flucht in die Fremdenlegion Peter Paul Moser war 21-jährig, als ihn die Bündner Vormund­ schaftsbehörde 1947 administrativ in die Arbeiterkolonie Herdern im Kanton Thurgau versorgte. Der junge Mann verstand die drastische Massnahme nicht, hatte er doch als Schau­ stellergehilfe und zuvor in einer Fabrik gearbeitet. Doch als Jenischer war er dem Zugriff der Behörden schon länger aus- gesetzt. Als Kleinkind hatte ihn das Pro-Juventute-Hilfswerk «Kinder der Landstrasse» der Familie entrissen und in ein Waisenhaus gebracht. Ziel war, die Kinder der Fahrenden zu sesshaften Bürgern zu erziehen. Später platzierte ihn sein Vormund, Hilfswerkleiter Alfred Siegfried, bei einer Pflege­ familie auf einem Bauernhof. Siegfried war ein verurteilter Pädophiler, was die schier unglaubliche Doppelmoral entlarvt. In seiner dreibändigen Autobiografie schrieb Peter Paul Moser später: «Mit der Trennung von der Familie beginnt die Verfol- gung eines Mitglieds einer ethnischen Minderheit: Eingriff in die menschliche Sphäre, Diskriminierung, Freiheitsberaubung, Versorgungen, Einweisungen in Arbeitskolonien bis zur Versor- gung in eine geschlossene Anstalt, mit dem Gedanken, eine ganze Volksgruppe auszurotten.» Mithilfe seines Arbeitgebers entging er 1947 der Internierung vorerst. Aus Angst überschritt er bei Genf die Schweizer Grenze und meldete sich in Annecy bei der Fremdenlegion. Die Polizei brachte ihn zurück in die Schweiz, wo die Behörden ihn wieder in die Arbeitskolonie einwiesen. Moser floh abermals, bekam eine Stelle in einer Maschinenfabrik. Auf dem Weg dorthin liess ihn der Vormund verhaften und in die Strafanstalt Bellechasse im Kanton Frei- burg transportieren. Das dortige Regime beschreibt er als menschenverachtend. Nach der Entlassung aus der Anstalt platzierte ihn der Vormund auf einem Bauernhof und verbot ihm die Heirat. Erst in den 1950er-Jahren gelang es Peter Paul Moser, sich von der Bevormundung zu lösen und eine Familie zu gründen. Später engagierte er sich in der Stiftung «Naschet Jenische» für die Aufarbeitung und Wiedergut ­ machung der systematischen Kindswegnahmen am fahrenden Volk. Dass sich der Bundesrat 1986 bei den Jenischen ent- schuldigte, erlebte Moser noch, nicht jedoch seine Rehabili- tierung als administrativ Versorgter. Er starb 2003, 77-jährig, an einem Herzinfarkt. Vormünder. Der Gewerbler, die Haus- frau, der Buchhalter: Sie entschieden amFeierabend über das Schicksal von MitbürgerinnenundMitbürgern. Auch Regierungsräte und Regierungsstatt- halter taten dies. Begründet wurde der Schritt mit fürsorgerischen und erzieherischenZielenoder demSchutz der Gesellschaft. Moralische Bewer- tungen und traditionelle Geschlech- terbilder prägtendieUrteile: Männern – sie machten 80 Prozent der Versorg- ten aus – wurde «Arbeitsscheu» und Alkoholismus vorgeworfen, Frauen «Liederlichkeit». ■ ■ Einige der vielen Anstalten in der Schweiz dienten gleich mehreren Zwecken. So kam es, dass administra- tiv Versorgte in Gefängnissen unter dem gleichen Dach lebten wie verur- teilte Straftäter. Auch in Zwangsar- beitsanstalten, Arbeiterkolonien, Er- ziehungsanstalten, Trinkerheilstätten und Armenhäuser wurden sie einge- wiesen. In den unterdotierten, wenig beaufsichtigten Institutionen muss- ten dieMänner körperliche Arbeit im Freien verrichten, Frauen wurden in der Hauswirtschaft eingesetzt. Die Zwangsarbeit war gar nicht oder schlecht entlöhnt. ■ ■ Das einschneidende Erlebnis einer Internierung begleitete Betroffene auch nach der Entlassung, oft ein Leben lang. Einige zerbrachen, andere wanderten aus. Manche leben bis heute in prekären Verhältnissen. Das Ziel, «Gefährdete» in die Gesellschaft einzugliedern, verfehlten die Behör- den. Faktisch verstärkten die Versor- gungen Probleme und Ausgrenzung. Schon damals Unrecht Ganz klar: Aus heutiger Sicht erschei- nen die Eingriffe in die persönliche Freiheit unverhältnismässig, die Für- sorgemethoden brachial. Doch es waren andere Zeiten, und die Versor- gungen beruhten auf Gesetzen. Wur- den sie erst imRückblick zu Unrecht? Nein, antwortet die Kommission. Die Versorgungsgesetze hätten geltende Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipienausgehebelt. Die Leutewur- den auf unbestimmte Zeit versorgt, nicht angehört, oft ohne rechtsgülti- genErlassweggesperrt, vielerorts gabs keine Rekursmöglichkeit an ein unab- hängiges Gericht. Auch waren die Ge- setze schwammig, so dass die Behör- den sie flexibel auslegen konnten. An- fänglich waren die Einweisungen in Anstalten für den Staat eine kosten- günstige Art, die Armen zu managen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts ent- wickelten sie sich zu Instrumenten sozialer Kontrolle. Landauf, landab wusste man: Wer den Weg der Wohl- anständigkeit verliess, riskierte die Versorgung. Es war denn auch nicht nur die Obrigkeit, die aktiv wurde. Nicht selten sei die Massnahme nach Hinweisen aus der Familie, der Nach- barschaft, von Pfarrern oder Lehrern zustande gekommen, halten die For- scher fest. Sie sprechen von «Margina- lisierungspraktiken, die tief in der schweizerischen Gesellschaft veran- kert waren». Wohl auch deswegen hielten sich die Versorgungsgesetze so lange. Der sozialpolitische Rückstand der Schweiz trug ebenfalls dazu bei: Die tragenden Sozialversicherungenwur- den hier später eingeführt als in ande- ren europäischen Ländern. Jedenfalls ist jetzt offiziell belegt: Das Selbstbild der Schweiz – Land der Geranien, des Wohlstandes, der Freiheit und der di- rekten Demokratie – gilt es um eine Kehrseite zu vervollständigen. Wich- tig werde die Erinnerungsarbeit sein, sagt UEK-Mitglied Thomas Huonker. Er war einer der erstenHistoriker, der Zwangseingriffe erforschte. Er unter- streicht: «Sowie die schöneGeschichte von Wilhelm Tell immer wieder aufs Neue erzählt wird, wird auch das düstere Kapitel der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen immer wieder erzählt werden müssen.» Die zehn Bände der Expertenkommission sind online kostenlos verfügbar: www.uek-administrative-versorgungen.ch

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