Schweizer Revue 6/2019

Schweizer Revue / November 2019 / Nr.6 28 Kultur Eine Vielfalt von Heimaten Der gesellschaftliche Wandel bringt eine neue Heimatliteratur her- vor. Aus einemLand der Auswanderer ist die Schweiz längst ein Land für Einwanderer geworden. Das spiegelt sich auch in ihren Erzählun- gen wider. Diese orientieren sich nicht mehr an den Idyllen und Tra- ditionen von einst, sondern setzen sich kritisch mit der eigenen Her- kunft auseinander. Wer nach seinen Wurzeln sucht, verfolgt dabei leicht Fährten inweit entlegene Regionen. SolcheWeltläufigkeit prägt die neue multikulturelle Literatur. Vor rund einem Jahrzehnt (2010) hatMelinda Nadj Abonji für «Tauben fliegen auf» den Schweizer Buch- preis und denDeutschen Buchpreis erhalten. Ihr Roman über Ankom- men und Ausgrenzung einer Migrantenfamilie in der neuen Heimat traf einen Nerv der Zeit. Schon 1970 hatte die Tessiner Autorin Anna Felder in «Tra dove pi- ove e non piove» einfühlsamdie Fremdheit der «Schlüsselkinder» von italienischen Gastarbeitern geschildert. Ihr sind zahlreiche Autorin- «Unhaltbare Zustände» Die Welt ist 1968 seit den Streiks und Studentenprotesten im Umbruch. Auch in Bern, wo Stettler als angesehe- ner Schaufensterdekorateur im gröss- ten Warenhaus arbeitet, weht der neue Zeitgeist. Der knapp sechzigjäh- rige Stettler erhält einen jungen Kolle- genmit frischen Ideen. Seine einst be- wunderten Schaufenster wirken nun bieder und bünzlig. Stettlers Welt ist erschüttert. Er fühlt sich bedroht und verbeisst sich in seinen Zorn und in Rachegedanken. Das Endewird bitter- böse mit einem nie gesehenen Schau- fensterbild von Stettler, das seinenUn- tergang besiegelt. Er schafft es nicht, demWandel etwas Gutes abzugewin- nen. Auch die Chance einermöglichen Liebesgeschichte mit einer Pianistin verpasst er. Sulzers Roman ist gescheit und feinfühlig, präzise in der Sprache und wunderbar erzählt. Alain Claude Sul- zer, 1953 geboren, lebt heute in Basel. Er hat zahlreiche Romane und Essays verfasst. RUTH VON GUNTEN Alain Claude Sulzer, «Unhaltbare Zustände» , Verlag Galiani, Berlin, 2019, 267 Seiten; CHF 33.90, E-Book (epub) ca. € 19.– Weitere Tipps (Deutschschweiz) Arno Camenisch, «Herr Anselm» (Engeler) Witziger, fein melancholischer Monolog eines unerschrockenen Schulabwarts. Ivna Žic, «Die Nachkommende» (Matthes-Seitz) Fulminantes Romandebut über Ankommen und Abreisen – Identität und Heimat. Ruth Schweikert: «Tage wie Hunde» (S.Fischer) Ein berührendes Krankentagebuch, das die ganze Welt mit umsorgt. Ein aalglatter Krimi Wer tötete die Journalistin, die in einem Badeort in den Hamptons ar- beitete? Wer ist der Schuldige eines Vierfachmordes, den die junge Frau untersuchte? Diese Fragen stehen am Anfang des vierten Romans des Gen- fers Joël Dicker, dessen Arbeit in über vierzig Sprachen übersetzt wurde. Die nen und Autoren gefolgt wie Dante Andrea Franzetti oder Franco Su- pino, die von der Generation der Secondos erzählen. In der Roman- die hat Agota Kristof die Sprache der neuen Heimat gewählt, um sich anUngarn, das Land ihrer Geburt, zu erinnern. Bücher vonMax Lobe (Kamerun) oder Elisa Shua Dusapin (Korea) auf Französisch, von Do- rian Catalin Florescu (Rumänien) oder Kathy Zarnegin (Iran) auf Deutsch demonstrieren, wie die Suche nach den familiärenWurzeln in die ganze Welt ausstrahlt. Mit solchen Büchern hat sich der Spiel- raum der Schweizer Literatur lebhaft erweitert. Mit den neuen Kul- turen fliessen neue Geschichten und neue Bilder in sie ein und ma- chen sie farbiger und vielfältiger. BEAT MATZENAUER Melinda Nadj Abonji, die Autorin des Buches «Tauben fliegen auf», strahlt über den Gewinn Deutschen Buchpreises (Archivbild von 2010).

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