Schweizer Revue 6/2019

Schweizer Revue / November 2019 / Nr.6 29 neue Geschichten- und Musikfenster. Dabei helfen die QR-Codes am Ende der Zuhöreranrufe. Mit dem Handy gelesen, wird das Musikstück über YouTube abgespielt. Pierre Lepori, 1968 in Lugano ge- boren, lebt in Lausanne. Der Autor undKulturkorrespondent des Schwei- zer Radios hat «Effetto notte» selbst ins Französische übersetzt. RUTH VON GUNTEN Pierre Lepori, «Effetto notte», Effigie edizioni, Pavia, 2019. 96 Seiten; € 13.– Weitere Tipps aus dem Tessin Flavio Stroppini, «Comunque. Tell» (Capelli), Die Legende Wilhelm Tell in bitter-ironischem Tonfall erzählt und illustriert. Marco Zappa, «AlVentAlBoffa...Ammò» (Dadò), Zum 70. Geburtstag des Tessiner Musikers seine wunderbaren Liedertexte. «Die Wölfin – La luffa» Bubwird er genannt. Nach demSelbst- mord des Vaters wächst er bei den Grosseltern und der Urgrossmutter in einem Bündner Bergdorf auf. Der ein­ armige Grossvater prägt sein Heran- wachsenmit seinen historischenZita- ten, den schrägen Ideen und den philosophischen Gedanken genauso wie die schweigsame, aber tonange- bende Grossmutter. Jede Textseite ist eine tiefgründige Miniatur auf den Spuren der Familiengeschichte des Jungen und seiner Charakterbildung. Die Sprache von Leo Tuor ist einfach, scheinbar leicht und poetisch. Erstmals 2002 erschienen, liegt das Buch des rätoromanischenAutors nun in überarbeiteter und zweispra- chiger Fassung vor. Peter Egloffhat die exquisite Prosa hervorragend ins Deutsch übertragen. Leo Tuor, 1959 in Graubünden geboren, lebt im Val Sumvitg (Surselva, GR). RUTH VON GUNTEN Leo Tuor, «Die Wölfin / La Luffa» , Limmat Verlag, Zürich 2019, 368 Seiten; CHF/€ 38.50 Gliederung im Stil einer amerikani- schen Serie funktioniert, hinterlässt aber nicht den Eindruck eines Patent- rezepts. Joël Dickers Stil ist glatt, sein Text mit Standardausdrücken durch- setzt. Die Figuren sind karikaturen- haft, zum Beispiel dieser New Yorker Anwalt, der Star der Kanzlei – mit Namen Starr. Aber: Kritiker, haltet euch nicht auf! Der Autor lässt diese Botschaft von einem Meta Ostrovski überbringen. Die Maxime dieses Lite- raturkritikers: «Niemals lieben. Lieben bedeutet schwach sein.» Dieser Seiten- hieb auf die unvermeidlichen Veräch- ter des Krimis spiegelt das ganze Buch: ein bisschen naiv, ein bisschen Kas- perle. Der schuljungenhafte Schalk bewahrt die Geschichte zumindest vor einer gewissen Plattheit. STEPHANE HERZOG Joël Dicker, «Das Verschwinden der Stephanie Mailer» , Edition De Fallois, 840 Seiten, CHF 35.00 Weitere Tipps aus der Romandie Roland Buti, «Grand National» (Zoé) Prägnanter und liebevoller Roman über einen Mann mittleren Alters in Krise. Pascal Janovjak: «Le Zoo de Rome» (Actes Sud) Ein Besuch im Zoo von Rom wird zum Spiegel der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Collectif, «Tu es la sœur que je choisis» (éd. D`En Bas) Westschweizer Autorinnen zum Schweizer Frauenstreik vom 14. Juni 2019. «Effetto notte» – nächtlicher Effekt Alessandromoderiert eine nächtliche Radiosendung, in der die Zuhörerin- nen und -hörer anrufen und frei spre- chen können. Nach einem Aussetzer während der Sendung muss er Ferien nehmen. Auf der anderen Seite des Ozeans findet der krisengeschüttelte Moderator langsam wieder zu sich selbst. Die Kapitel der Zuhöreranrufe sind geschickt im Wechsel mit der Chronik seines Amerikaaufenthalts angeordnet. Der schmale Band, mal ernst und beobachtend, dann wieder absurd und amüsant, öffnet immer Zerbrechliche Figuren – und ein Schritt ins Leere Eine junge Frau steht zuäusserst auf einem Dach und droht herunterzuspringen. Fast zwei Tage lang steht sie da und zwingt eine ganze Stadt in ihren Bann. Simone Lappert, geboren 1985 in Aarau, nutzt den Vorfall, um eine Fülle von Figuren verschiedener Generationen in ih- rer Reaktion darauf vorzuführen und jeder ein individuelles Leben zu geben. Dazu gehören alte Menschen, die vom Leben zermürbt sind, junge, für die noch alles möglich ist, und sol- che der mittleren Generation, die von ihren be- ruflichen Verpflichtungen fast aufgefressen werden. Da ist Manu, die Frau, die springen will, und ihr cooler Freund Finn, ein Velokurier, da sind zwei resignierte ältere Leute, die mit ihrem Lebensmittelladen immer tiefer in die roten Zahlen kommen, da ist ein Obdachloser, der den Passanten Zettelchen mit Fragen ver- kauft, eine Pubertierende, die sich was antun will, um vom Schwimmunterricht fernzublei- ben, oder Roswitha, die Besitzerin des Cafés, das den Treffpunkt für die Figuren liefert. Si- mone Lappert erzählt von den einzelnen Cha- rakteren wunderbar anschauliche Geschichten, lässt das Rätsel von Manu und ihres Sprungs aber bewusst im Ungewissen. Der Einfall mit dem im Netz der Feuerwehr endenden Sprung mag etwas konstruiert anmuten, die Darstel- lung der einzelnen Figuren und ihrer Leiden und Freuden aber macht aus dem Buch nichts weniger als ein Ereignis und erinnert an Car- son McCullers Roman «The Heart is a lonely Hunter» von 1940, wo ebenfalls anhand einer Reihe einprägsamer Figuren eine ganze Stadt zu intensivem Leben erweckt wird. CHARLES LINSMAYER Simone Lappert, «Der Sprung» , Diogenes-Verlag, Zürich. Roman, 330 Seiten, Hardcover Leinen 30 Franken, E-Book 24 Franken Weitere Kurztipps finden Sie unter www.revue.ch

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