Schweizer Revue 6/2019

Schweizer Revue / November 2019 / Nr.6 38 Warum? Auf diese Frage hat Paavo Järvi nur gewartet. Genüsslich cool sagt der neue Chef- dirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich: «Weil ich Fan vonOlivierMessiaen bin. Das ist grosse Musik, die viel zu wenig gespielt wird. Wir bringen nun eine kleine Sammlung von Meisterwerken auf CD heraus.» Doch er weiss auch, dass die Ausgangs- frage nicht lautete «Warum spielen Sie Messi- aen ein, Musik des französischen Komponis- ten, der von 1908 bis 1992 lebte?», sondern «Warumspielen Sie zumAmtsantritt inZürich Messiaen ein?» Und folglich tönt die Fortset- zung seiner Erklärungen pragmatisch: «Was passiert, wenn ein Dirigent zu einem deut- schen oder Deutschschweizer Orchester kommt? Er spielt Mahler, Bruckner oder Brahms ein. Aber ich wollte es etwas anders machen, eine Botschaft senden, einwenig überraschen. Die künstlerischenAs- pekte sollten nicht vomMarketing gelenkt werden.» ImPrinzip begann am2. Oktober 2019 nicht Järvis erstes, sondern schon sein zweites Zürcher Jahr, denn die Planungskünstlerinnen sei- ner Agentur und des Tonhalle-Managements ermöglichten es, dass der Este in der letzten Saison oft in Zürich dirigierte – und zu dieser Gelegenheit eben immer wiederWerke vonMessiaen einstreute. Die Mikrofone hingen im Saal, der Keller der Tonhalle Maag wurde kurzum zu einem Tonstudio umgebaut. Hier fünfzehn Minuten, da zweimal zehn – da noch sechs dazu: Kombiniert mit einer angriffigen Beethoven-Interpretation erlebte man in der Tonhalle Maag elektrisierende Abende. Bei allenOrchesterwogen und Streicherwirbeln: DieseMusik tönt sehr kontrolliert, die straffe Dirigentenhand ist hörbar – und die Lust der Musiker, ihrem neuen Chef zu gefallen. Die einzelnen Register übertrumpfen sich geradezu. Und werden diese Werke so leiden- schaftlich gespielt, erkennt jeder, wie wunderschön, wie schwelge- risch und sinnlich diesemoderneMusik ist. Prächtig, wie das Orches- ter in den «Offrandes oubliées», dieser sinfonischen Meditation, schwärmt und klagt und in der Seele bohrt, wie die Streicher erst fle- hen, dann in einenwahren Sturmgeraten. Rettung kommt, denndiese Musik ist durchströmt von einer leuchtenden Positivität. Und: Auf demCover seiner Tonhalle-CD schreitet Järvimit leichtemSchuhwerk voran. CHRISTIAN BERZINS Erst die Kunst, dann das Marketing Gehört Lilo Pulver Dieses Lachen! KeinMedienbeitrag über Liselotte «Lilo» Pulver kommt je ohne Hinweis auf das Markenzeichen der immer noch populären Schweizer Schauspielerin aus. Das war auch rund um ihren 90. Ge- burtstag imvergangenenOktober so. Zwar lebt die Pulver inzwischen zurückgezogen in einer Alterseinrichtung in ihrer Geburtsstadt Bern. Doch aus Anlass des hohen Geburtstages veröffentlichte sie ein Buch mit dem Titel «Was vergeht, ist nicht verloren»: persönliche Erinne- rungen, basierend auf alten Fotos, Briefen und Notizen. Pulver hat al- les aufbewahrt und kann jetzt aus einem langen Leben erzählen. Es nahm einen Verlauf, der einer 1929 in Bern geborenen Bürgerstoch- ter kaum vorgezeichnet war. So absolvierte sie denn auch brav eine Handelsschule, bevor sie Schauspielunterricht nehmen durfte. Die nachfolgende Karrierewar grandios und international. Besonders im Nachkriegsdeutschland wurde die fröhliche Schweizerin zum Ki- nostar, dank Filmen wie «Ich denke oft an Piroschka». Das Schweizer Publikum schloss sie in den 1950er-Jahren als grundgute Magd Vre- neli in den Gotthelf-Verfilmungen «Ueli der Knecht» und «Ueli der Pächter» ins Herz. Welch talentierte, wandelbare Schauspielerin sie war, bewies sie später imNouvelle-Vague-Film «Die Nonne» genauso wie in der Komödie «Eins, zwei, drei» des US-Regisseurs BillyWilder. Dort legte sie auf dem Tisch tanzend eine Marilyn-Monroe-Parodie hin. Im Privatleben trafen sie auch Schicksalsschläge: der frühe Tod der Tochter, der Verlust des Ehemannes. Doch Schlagzeilen, sie lebe heute vereinsamt, seien frei erfunden, stellte sie jüngst klar: «Ich bin imGrossen undGanzen sehr zufriedenmitmeinemLeben.» Und auch das legendäre Lachen: Es ist noch da. Jeden Tag finde sie Grund dazu, sagt sie. SUSANNE WENGER Herausgepickt PAAVO JÄRVI: «Messiaen» Tonhalle-Orchester, Zürich Alpha 2019

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