Schweizer Revue 6/2019
Schweizer Revue / November 2019 / Nr.6 6 Schwerpunkt MARC LETTAU Das politische Systemder Schweiz ist so stark auf Stabilität und Ausgleich bedacht, dass Wahlen kaum je erdrutschar- tige Verschiebungen nach sich ziehen. Nach den Wahlen 2019 greifen die Politologen hingegen zu Superlativen: Die Umwälzung sei diesmal «vonhistorischemAusmass», heisst es in grosser Einmütigkeit. Was ist passiert? DieWählenden haben stärker als je zu- vor auf grüne Kräfte aller Schattierungen gesetzt. DieGrüne Partei der Schweiz (GPS) legte imNationalrat gleich 17 Sitze zu und stellt neu 28 Nationalrätinnen und -räte. Seit 1919 hat keine Partei je einen solchen Sprung nach vorn geschafft. Die GPS rückt damit ins Quartett der wählerstärksten Par- teien vor (Wähleranteile: siehe Grafik). Auffällig ist am Erfolg der Grünen, wie gering die regi- onalen Unterschiede blieben: Sie legten sowohl in der Deutschschweiz wie in der Romandie stark zu und – über- raschend – auch imTessin. Auch übertreffen die Erfolge der Grünen die Prognosewerte bei weitem. Der Fraktionschef der Grünen, Nationalrat Balthasar Glättli (ZH), nahm des- halb das spektakuläre Resultat fast ungläubig zur Kennt- nis: «Das hätte ich in meinen kühnsten Träumen nicht ge- dacht.» Verstärkt wird die grüne Welle durch die Erfolge der in der politischen Mitte verorteten Grünliberalen Par- tei (GLP). Auch sie kann die Zahl ihrer Sitze mehr als ver- doppeln. Mit gemeinsam44 Sitzen imNationalrat erhalten GPS undGLP inUmweltfragen viel politisches Gewicht. Ein wichtiger Treiber der Kräfteverschiebung war ohne Zwei- fel die anhaltende Klimadebatte: Statt von Nationalrats- und Ständeratswahlen war in der Öffentlichkeit oft die Rede von «Klimawahlen». Erstens: Grüner, als die Zahlen zeigen Die guten Resultate der beiden grünen Parteien bilden die «grüne Welle» aber nur teilweise ab. Denn: Die schweizeri- sche Politik ist bereits im Vorfeld der Wahlen grüner ge- worden. Die «Klimawahlen» entfalteten also eine Voraus- wirkung. Gut ablesbar ist dies bei den Freisinnigen (FDP). Sie verordneten sich spät imWahlkampf einen grüneren Kurs und revidierten in wichtigen umweltpolitischen Fra- gen ihre Position. So unterstützte die FDP imHerbst imNa- tionalrat die Einführung einer Umweltabgabe auf Flugti- ckets. Zuvor hatten sie dieses Lenkungsinstrument zu verhindern versucht. Die FDP büsste im Nationalrat zwar vier Sitze ein. Ohne den «ökologischen Schwenker» wären Grün in allen Schattierungen prägt neu die Politik Das schweizerische Parlament wird in historischem Ausmass grüner, markant weiblicher, etwas linker und eine Spur jugendlicher. In der Summe sind die Umwälzungen enorm. Und: Die wählende Fünfte Schweiz verstärkte den grünen Trend. 4 29 53 25 3 3 16 28 39 6 65 33 7 28 7 11 43 SP 16.8% Grüne 13.2% GLP 7.8% CVP 11.4% FDP 15.1% EVP 2.1% BDP 2.4% SVP 25.6% Weitere 3.4% SP 18.8% Grüne 7.1% GLP 4.6% CVP 11.6% FDP 16.4% BDP 4.1% SVP 29.4% Weitere 8.0% 2019 2015 Die Kräfteverteilung im neu gewählten Nationalrat: Nebst der Zahl der Sitze ist die Wählerstärke der einzelnen Parteien in Prozent angegeben. Der kleinere Halbkreis stellt die Ergebnisse der Wahlen von 2015 dar. Zu den «Weiteren» zählen 2019 die Kleinparteien PdA (2 Sitze), Lega dei Ticinesi (1 Sitz) sowie EDU (1 Sitz).
RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx