Schweizer Revue 1/2020
Schweizer Revue / Januar 2020 / Nr.1 10 Reportage GERHARD LOB Die Strasse führt steil aufwärts. Es geht an der 220 Meter hohen Verzasca-Staumauer vorbei, die durch den Sprung von James Bond in «Goldeneye»Weltberühmtheit erlangte. Und dann dem Stausee entlang, bis man endlich Corippo erblickt. Das kleine Dörfchen klebt wie ein Vogelnest auf der rechten Talseite, die Steinhäuschen und Dächer mit Granitplatten scheinen mit der Umgebung und den terras- sierten Hängen zu einem Ganzen zu verschmelzen. Der Kirchturm steht hier mitten imDorf. Ein kleiner Friedhof begrüsst die Besucher vor demOrtseingang. Die Kerzen von Allerheiligen sind allerdings abgebrannt, die Blumen ver- welkt. Eigentlich romantisch, doch bei Regen und leichtem Schneefall erscheint das Dörfchen an diesemwinterlichen Nachmittag trist und abweisend. «Chiuso – geschlossen seit 30. Oktober» steht vor der einzigen Osteria des Dorfes, die im Sommer ein beliebtes Zwischenziel für Wandertouris- ten ist. Nur elf Einwohner mit einem Durchschnittsalter von über 70 Jahren zählt die Gemeinde gemäss dem Bun- desamt für Statistik. Sie ist somit die kleinste Gemeinde der Schweiz. Allerdings nur noch für kurze Zeit: ImApril wird Corippo zu einemQuartier der Gesamtgemeinde Verzasca. Heute stehen in Corippo viele Häuser leer oder werden nur noch im Sommer als Ferienresidenzen benutzt. Zu sei- nen bestenZeiten, 1850, zählte der Ort fast 300 Einwohner. Seither ging es bergab. Corippo ereilte dasselbe Schicksal wie das ganze Verzascatal und andere Bergregionen im nördlichen Tessin. Armut in Verbindung mit einem Man- gel an Beschäftigung und Einkommen führte zu Abwande- rung. Der Schlüsselroman zum Verständnis der Tessiner Geschichte «Il fondo del sacco» von Plinio Martini (auf Deutsch: «Nicht Anfang, nicht Ende») über Auswanderer aus demMaggiatal könnte auch imVerzascatal spielen. Vorläufig ist der Superlativ der kleinstenGemeinde der Schweiz für Corippo noch gültig. Doch imDorf scheintman sichwenig darauf einzubilden. Und nochweniger darüber reden zu wollen. Fragen von Auswärtigen zum Zustand der Kleinstgemeinde werden gar nicht oder nur mürrisch beantwortet. «Es sind alle in die Ebene abgewandert», murmelt ein Senior, der schnell das Gartentor hinter sich schliesst. Eine funktionierende Gemeindeverwaltung gibt es schon seit Jahren nicht mehr. Der heute 55-jährige Claudio Scett- rini, Forstarbeiter und jüngster Einwohner im winzigen Ort, war der letzte Gemeindepräsident. Gemeinsam mit seiner Tante und seiner Schwägerin bildete er denGemein- derat. «Aber wir mussten immer alles den Kanton fragen, und am Ende ist nie etwas passiert», sagte Scettrini, als er 2017 entnervt das Handtuch warf. Seither wird die Ge- meinde extern verwaltet. Ein Dorf soll zumHotel werden Mit elf Einwohnern ist Corippo im Tessin extrem klein – die kleinste Gemeinde der Schweiz. Aber nicht mehr lange: In wenigen Monaten wird der Weiler mit der Talgemeinde Verzasca fusioniert. Doch die Hauptfrage bleibt: Welche wirtschaftliche Perspektive hat ein winziges und vorab von Betagten bewohntes Bergdorf? Höher, weiter, schneller, schöner? Auf der Suche nach den etwas anderen Schweizer Rekorden. Heute: Die kleinste Schweizer Gemeinde e trem Schweiz
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