Schweizer Revue 1/2020
Schweizer Revue / Januar 2020 / Nr.1 3 Schweigen die Waffen, ist der Krieg noch lange nicht vorbei. Schmerz und Erschütterung wirken nach, werfen über Generationen hinweg ihre Schatten. Das erfährt gegenwärtig die neutrale Schweiz, weil in der Öffentlichkeit – endlich – ein konkreteres Bild der Schweizer Holocaust-Opfer entsteht. Der Schweizer Pass nützte Hunderten von ihnen nichts. Sie wurden in Dachau, Auschwitz und anderen Orten des Schre- ckens eingesperrt. Einige überlebten. Viele nicht. Das ist zwar Geschichte, aber nicht Vergangenheit, denn bis heute sind diese Opfer in der offiziellen Schweizer Geschichtsschreibung eine Leerstelle. Siewaren bis anhin primär sperrige «Entschädigungsfälle». Dank einem bemerkenswerten neuen Buch (Seite 6) rückt jetzt stärker als bisher die Frage in den Fokus, warum die Schweizer Opfer überhaupt zu Opfern wurden. Ohne Zweifel sind sie in allererster Linie Opfer, weil der Schrecken des Nazi-Regimes keine Grenzen kannte. Aber der Blick zurück fördert auch Beklemmendes über das Verhalten der Schweiz und ihrer Diplomatie zutage. Zwar gab es sie, die Schweizer Diplomaten, die sich beherzt für ihre Landsleute und für die Menschlichkeit an sich einsetzten. Verstörend sind aber jene Fälle, wo Betroffene ganz im Stich gelassen wurden. Sowar das Verhalten der diplomatischenCrew imBerlin der späten Weltkriegsjahre von anbiedernder, geräuschloser Zurückhaltung: Um das Reich nicht zu erzürnen, setzte sie sich nicht generell, sondern nur fallweise für Schweizer KZ-Häftlinge ein. Diese Trennung in schutzwürdige und schutzunwürdige Schweizerin- nen und Schweizer ist einer der dunklen Kriegsschatten, mit denen sich die Schweiz befassen muss. Schutzunwürdig und somit Schweizer 2. Klasse waren zuweilen Juden, «Zigeuner», Schwule, «Asoziale», Sozialisten und selbst Doppelbürger. Ihnen begegneten während und nach dem Krieg etliche mit demunterschwelligenVorwurf, sie seien zu einemrechten Teil selber schuld an ihremSchicksal. Das heisst auch: Für die Beurteilung vonMenschenwurde letztlich der Kriterienkatalog der Nazis übernommen. Sich dieser Geschichte zu stellen, heisst, sich an die Kernfrage zu wagen: Stehenwir heute ganzwoanders als damals? Konkreter: Erfahren Schweizer Jüdinnen und Juden heute weniger Anfeindung als damals? Sind die in der Schweiz verwurzelten Sinti, die damals als «Zigeuner» nichtmit Schutz rech- nen durften, heute akzeptiert? Begegnet man Doppelbürgern inzwischen ohne Argwohn? Das sind nicht Fragen für die Geschichtsschreibung, sondern für die Gegenwart. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR Editorial 4 Briefkasten 6 Schwerpunkt Mit Schweizer Pass in Hitlers Todeslagern 10 Reportage Corippo: Wenn ein ganzes Bergdorf zumHotel wird 13 Gesellschaft Die Gebärdensprache ringt umAnerkennung 16 Politik/Wahlen 2019 Auch für den Ständerat gilt: grüner, weiblicher, jünger Nachrichten aus Ihrer Region 17 Politik Die Schweiz will ihre Entwicklungshilfe umbauen Das grosse Dilemma: Was tun mit Schweizern im Jihad? 22 Literaturserie GertrudWilkers Blick auf die USA 23 ASO-Informationen Studieren in der Schweiz Lager für Kinder und Jugendliche 26 news.admin.ch 28 Gesehen 30 Gelesen/Gehört 31 Herausgepickt/Nachrichten Inhalt Kriegsschatten Titelbild: Herbststimmung im Tessiner Bergdorf Corippo. Foto Keystone Herausgeberin der «Schweizer Revue», dem Informationsmagazin für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation (ASO).
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