Schweizer Revue 1/2020
Schweizer Revue / Januar 2020 / Nr.1 6 Schwerpunkt SUSANNE WENGER Es ist der 10. Februar 1944, als die junge Mutter Marcelle Giudici-Foks mit der Eisenbahn ins Konzentrations lager Auschwitz transportiert wird. Die Gestapo im besetzten Frankreich hat sie mit über tausend anderen Jüdinnen und Juden in Viehwaggons zusammengepfercht. Marcelle, eine lebensfrohe Tanzlehrerin aus Royan an der Atlantikküste, ist mit demAus- landschweizer Jean Giudici verheira- tet und dadurch Schweizerin gewor- den. Jeans Eltern entflohen bitterer Armut im Tessin und versuchen ihr Glück als Waffelbäcker in Frankreich. Als es für die Juden in Frankreich ab 1942 wegen einsetzender Massen- deportationen gefährlich wird, erwä- gen Marcelle und Jean die Ausreise in die sichere Schweiz. Doch weil Mar- celle hochschwanger ist, sehen sie im letzten Moment davon ab, sich dem rettenden Zugskonvoi der Schweizer Behörden anzuschliessen. Ende Ja- nuar 1943 holt der Bund endlich die in Frankreich lebenden Schweizer Juden zurück. Zuvor zögerte Bern lange, ob- wohl der Leiter des Schweizer Konsu- lats in Paris, René Naville, mehrfach warnte, dass Landsleute bedroht seien. Die Repatriierung kommt für Mar- celle Giudici zu spät. Sie stirbt in Auschwitz. «Unseres Interesses würdig» Auch der Auslandschweizer René Pil- loud wird in einem KZ interniert. Er ist in Freiburg geboren undmit seinen Eltern ins französische Bellegarde nahe der Schweizer Grenze ausgewan- dert. Der Vater arbeitet in der Fabrik, René absolviert eine Lehre als Werk- zeugmacher. Im Februar 1944, auf dem Weg an einen Sportwettkampf, gerät der erst 17-Jährige als Unbetei- ligter in einen Einsatz derWehrmacht gegen die französische Résistance. Er wird misshandelt und auf Umwegen ins KZ Mauthausen gebracht. Die Schweizer Behörden bemühen sich um seine Freilassung. Er sei «unseres besonderen Interesseswürdig», heisst es in den Akten. Einmal steht ein Gefangenenaus- tausch zur Debatte, doch die Schweiz sieht davon ab. Sie will nicht unschul- dige Schweizer gegen rechtskräftig verurteilte deutsche Straftäter aus tauschen. Die hehren staatsrechtli- chen Prinzipien verlängern Pillouds Martyrium. Anfang 1945 wird er ins Krematorium des Lagers abkomman- diert, wo er täglich Hunderte Leichen verbrennenmuss. Erst kurz vorKriegs ende kann ihn das Rote Kreuz in die Schweiz bringen. Er ist abgemagert, traumatisiert, tuberkulosekrank. Die Schweiz bezahlt ihm 35000 Franken Schadenersatz als Nazi-Opfer. 1985 stirbt er in Genf. Aus Nummern werden Menschen René Pilloud und Marcelle Giudici: zwei Namen, zwei schlimme Ge- schichten. Im Buch der Journalisten Mit Schweizer Pass in Hitlers Todeslagern Mindestens 391 Schweizerinnen und Schweizer waren in Konzentrationslagern der Nazis inhaftiert, viele von ihnen Auslandschweizer. Das belegt ein historisches Sachbuch, in dem drei Journalisten erstmals die Schicksale der Schweizer KZ-Häftlinge beleuchten. Häftlingsnummer von Gino Pezzani im KZ Sachsenhausen. «Sch.» steht für Schweizer, das rote Dreieck für den politischen Häftling. Die Nazis deportierten Pezzani 1944 aus dem besetzten Frankreich. Er überlebte knapp. Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs Balz Spörri, René Staubli, Benno Tuchschmid NZZ Libro; 320 Seiten, 147 Abbildungen. CHF 48.– Nur in deutscher Sprache erhältlich.
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