Schweizer Revue 1/2020

Schweizer Revue / Januar 2020 / Nr.1 INTERVIEW: SUSANNE WENGER Ein Buch legt erstmals belegbare Opferzahlen vor. Demnach ist die Zahl der Schweizerinnen und Schweizer, die in den KZ der Nazis starben, noch viel höher, als die Auslandschweizer-Organisation annahm. Überrascht Sie das? Remo Gysin: Nein, es erstaunt nicht, dass nun mehr als doppelt so viele er­ mordete Schweizer Opfer bekannt sind. Nach wie vor ist vieles im Dun­ keln. Zusätzliche Nachforschungen werden eine noch weit höhere Opfer­ zahl belegen. Bereits 2018 stellte sich der Auslandschwei- zerrat hinter die Idee, eine Gedenkstätte für die Schweizer KZ-Opfer zu errichten. Was soll ein solches Mahnmal bewirken? Die Erinnerung soll aufrechterhalten und gestärkt werden. Mit demBlick in die Vergangenheit sollen Lehren für die Zukunft gezogen werden. Es gilt auch zur Bewusstseinsbildung beizu­ tragen, welche Gefahren Rassismus, Antisemitismus undDiskriminierung in sich bergen. Ich stelle mir eine Ge­ denkstätte vor, die zum Innehalten, Nachdenken und Diskutieren anregt. Wo soll die Gedenkstätte hinkommen und welche Form soll sie annehmen? Es muss ein öffentlicher, gut sichtba­ rer, leicht zugänglicher und für eine Gedenkstätte würdiger Ort sein, der auch ein Bekenntnis der Schweiz zu ihrer historischenVerantwortung aus­ drückt. Bern wäre meines Erachtens naheliegend. Verschiedene Formen sind denkbar und sollten imweiteren Entwicklungsprozess eingehend ge­ prüftwerden. Eine Steuerungsgruppe, bestehend aus der ASO, dem Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich, jüdischen Organisationen und einer Expertin für Denkmäler, ist an der Ar­ beit. Entgegenmeiner ursprünglichen Meinung braucht es mehr als eine blosse Gedenktafel. Welche Botschaft soll transportiert werden? Anzusprechen ist das Gedenken an alle Opfer und im Besonderen auch der Schweizer Opfer des Nationalsozi­ alismus und des Holocausts. Ich fände es auch sinnvoll, an die Schweizerin­ nen und Schweizer zu erinnern, die sich dem Nationalsozialismus entge­ gengestellt oder denVerfolgten Schutz und Hilfe boten. Wer soll die Gedenkstätte finanzieren? Zurzeit ist noch nichts definitiv fest­ gelegt. Da sichdie Schweiz alsMitglied der «International Holocaust Remem­ brance Alliance» verpflichtet hat, die Erinnerung an den Holocaust auf­ rechtzuerhalten, sehe ichdenBund als Träger und Finanzierer des Projektes, eventuell mit Unterstützung der Kan­ tone und der Standortgemeinden. Braucht es weitere Schritte zur Aufarbeitung des Themas? Nebst der Gedenkstätte braucht esmit Blick auf aktuelle Entwicklungen in Gesellschaftund Politik dringend eine weitere intensive Forschungs- und Lehrtätigkeit, ein umfassendes Infor­ mationskonzept und Bildungsange­ bote auf verschiedenen Schulstufen. «Es gilt auch zur Bewusstseinsbildung beizutragen, welche Gefahren Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung in sich bergen.» «Es braucht mehr als eine blosse Gedenktafel» Die Auslandschweizer-Organisation (ASO) fordert eine Gedenkstätte für Schweizer Opfer des National sozialismus. Das Mahnmal soll auch an mutige Schweizer wie den Diplomaten Carl Lutz erinnern, die Verfolgten Schutz und Hilfe boten, sagt ASO-Präsident Remo Gysin. Das Buch zeigt auch auf: Die Schweizer Behörden hätten mehr tun können, um Betroffene zu befreien. Hat der Bund die Auslandschweizerinnen und Ausland­ schweizer im Stich gelassen? Ohne Zweifel hätten die Schweizer Behörden mehr Leben retten können. Schon der Bergier-Bericht zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg zeigte dies klar auf. Mit dem neuen Buch gibt es jetzt weitere Belege dafür. Ich hättemir zumBeispiel eine andere Haltung des damaligen Bundesrates und des Schweizer Gesandten in Ber­ lin gewünscht. Dabei denke ich an das mutige Verhalten von Carl Lutz, der als Schweizer Diplomat in Ungarn Zehntausende verfolgte ungarische Jüdinnen und Juden gerettet hat. Zur Person: Remo Gysin präsidiert die Ausland- schweizer-Organisation seit 2015. Davor vertrat der promovierte Ökonom zwölf Jahre lang die Sozial­ demokratische Partei im Schweizer Parlament. Während acht Jahren war er Regierungsrat im Kan- ton Basel-Stadt. 9

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