Schweizer Revue 2/2020

Schweizer Revue / April 2020 / Nr.2 17 Politik SIBILLA BONDOLFI Wären die Stimmen aus der Fünften Schweiz rechtzeitig eingegangen, wäre bei den jüngsten Ständeratswahlen im Kanton Tessin wohl Filippo Lombardi (CVP) gewählt worden statt seiner sozialdemokratischen Konkurrentin Marina Carobbio. Das kantonale Verwaltungs- sowie das Bundesgericht befasst sich deshalb mit der Angelegenheit. Im Fokus stehen dabei die Schwierigkeiten beimWäh- len per Brief. Nur: «Was im Ausland postalisch passiert, ist nicht von den Schweizer Behörden zu verantworten», sagt dazu der emeritierte Rechtsprofessor und Experte für Stimmrechtsfragen Pierre Tschannen. Will heissen: Trifft das – rechtzeitig verschickte – Stimmmaterial zu spät ein, so haben nach geltender Rechtsprechung die Ausland- schweizerinnen und -schweizer dieses Risiko zu tragen. Doch wie liegt der Fall, wenn – wie im Tessin – die Behör- denWahlcouverts unnötig lange herumliegen lassen oder aus Spargründen als «Economy» frankieren, was gemäss Post je nach Land bis zu 25 Tagen Sendezeit bedeutet? «Wie es sich bei Verspätungen verhält, die ihre Ursache in der Schweiz selbst haben, weiss ichnicht – da könnte es bei sehr knappemAusgang in der Tat anders aussehen», sagt Tschan- nen. Die Causa Lombardi hätte also das Potenzial zum Präzedenzfall. Auch der Staatsrechtler und Demokratie-Experte Pro- fessor Andreas Glaser von der Universität Zürich schaut ge- spannt auf denAusgang des Rechtsstreits imTessin: «In den meisten Fällen betrifft es so wenige Stimmen, dass es im Ergebnis keinen Unterschied macht. Aber in diesem Fall könnten die verspäteten Stimmen relevant sein.» 200 Cou- verts sind nämlich zu spät aus demAusland zurückgekom- men – und nur 46 Stimmen lagen zwischen Lombardi und Carobbio. «Lösen kann man das Problem letztlich nur via E-Vo- ting – aber gegen die elektronische Stimmabgabe gibt es bekanntlich gewichtige Einwände», sagt Tschannen. Und Glaser ergänzt: «Man hat gemeint, das Problem löse sich dank E-Voting.» Die jetzige Situation finde er unbefriedi- gend. Einerseits sei das Auslandschweizerstimmrecht in der Verfassung verankert, andererseits könne es wegen praktischen Hürden faktisch nicht umgesetzt werden. SIBILLA BONDOLFI ist Redaktorin bei Swissinfo. Der hier veröffentlichte Text ist ein Auszug aus einem längeren Beitrag, den Sie in deutscher und französischer Sprache unter swissinfo.ch finden. Auslandschweizerstimmrecht: «Wir stossen an die Grenzen des Machbaren» Zu spät eingetroffene Wahlzettel stellen Schweizer Gerichte vor die Frage, wie viel der Staat machen muss, um Auslandschweizern und Auslandschweizerinnen das Stimmrecht zu ermöglichen. Laut Staatsrechtlern verspricht das Gesetz etwas, das faktisch gar nicht machbar ist. Ist das Auslandschweizerstimmrecht in Stein gemeisselt? Ist die Schweiz überhaupt verpflichtet, ihren Bürgerinnen und Bürgern im Ausland das Stimm- und Wahlrecht zu ermöglichen? «Es gibt keine völker- rechtliche Pflicht, Auslandsbürgern das Stimmrecht im Heimatland zu er- möglichen», sagt Tschannen. «Die Bundesverfassung indessen verpflichtet den Bund, Vorschriften über die Rechte und Pflichten der Auslandschweizer zu erlassen, namentlich in Bezug auf die politischen Rechte.» Damit ergibt sich implizit aus der Bundesverfassung, dass Ausland- schweizerinnen und -schweizer auf Bundesebene stimm- und wahlberech- tigt sind. Das Stimm- und Wahlrecht ist auch im Auslandschweizergesetz verankert. Dieses hält fest, dass die Stimmabgabe persönlich, brieflich oder, sofern die Voraussetzungen erfüllt sind, elektronisch erfolgen kann. «Die Schweiz leistet sich mit dem uneingeschränkten Stimm- und Wahlrecht einen Luxus zu Gunsten der Auslandsbürger», sagt Glaser. «Weil die Schweiz so grosszügig das Stimmrecht vorsieht, darf sie ihren Aus- landsbürgern nicht etwas vorspiegeln, sondern muss das Stimmrecht ge- währleisten», sagt Glaser. «Aber andererseits stossen wir an die Grenzen der Machbarkeit.» «Ich sehe das Auslandschweizerstimmrecht kritisch und bin damit nicht allein», sagt dagegen Tschannen. Die Politik werde sich zwar hüten, etwas zu ändern, denn die politischen Rechte der Auslandschweizer seien ein Tabu. Trotzdem sage er: «Das Auslandbürgerstimmrecht widerspricht dem demokratischen Fundamentalprinzip, wonach an Wahlen und Abstim- mungen eines Gemeinwesens nur teilnehmen darf, wer von den Beschlüs- sen eben dieses Gemeinwesens unmittelbar betroffen ist.» Wahlhelferinnen und -helfer zählen Stimmen aus. Zu spät eintreffende briefliche Stimmen können sie nicht berück- sichtigen. Foto Keystone

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