Schweizer Revue 2/2020

Schweizer Revue / April 2020 / Nr.2 21 Literaturserie dokumentiert nicht nur den vergeblichen Versuch, als Galerist zu Erfolg zu kommen, sondern auch eine persön- liche Krise, die mit seiner nie öffentlich eingestandenen Homosexualität zusammenhängt. Die Liaison mit einem faszinierenden jungen Mann gehört denn auch zu den be- wegendsten Passagen seines Pariser Journals, das unvoll- endet bleibt, weil Mettler unter Hinterlassung eines beträchtlichen Schuldenbergs am 12. September 1930 mit 25 Jahren überraschend an einer Blutvergiftung stirbt. Erstveröffentlichung 90 Jahre später Mettlers Tagebücher hätten denWeg niemals an die Öffent- lichkeit gefunden, wenn der mit ihm entfernt verwandte David Streiff, ehemals Direktor des Bundesamts für Kultur, sie nicht ausgegraben und den Historiker AndréWeibel zu einer brillant kommentiertenEdition veranlasst hätte. Zum Erstaunen vieler tauchte so der vergessene junge Mann neunzig Jahre nach seinem Tod mit einem Buch wieder auf, das das damalige Amerika ebenso le- bendig spiegelt wie die Pariser Kunstszene und das in vielerlei Hinsicht etwas bemerkenswert Visionäres besitzt. So erkannte er schon damals die Relativität des technischen Fortschritts, insbe- sondere der Fliegerei, und ein Satz wie «Man kann nicht zugleich glücklich sein und wissen, dass man es ist» verrät eine Tiefe des Denkens, wie sie für einen 25-jäh- rigen jungen Mann unbedingt be- wundernswert ist. CHARLES LINSMAYER IST LITERATURWISSEN- SCHAFTLER UND JOURNALIST IN ZÜRICH CHARLES LINSMAYER «Die Amerikaner sind gerne bereit, jemandem Folge zu leis- ten. Man könnte sie missbrauchen. Sie sind kritiklos und gutmütig. Man könnte sie am Narrenseil herumführen.» Wüssteman nicht, dass der Satz 1927 von einem22-jährigen Schweizer in sein Tagebuch notiert wurde, man könnte ihn für die Aussage eines gewieften Kenners des derzeitigen amerikanischen Präsidenten und seiner Anhänger halten. Junger Mann aus reichem Hause Der junge Schweizer hiess Kurt Mettler, stammte aus einer wohlhabenden St. Galler Industriellenfamilie, war ein gut ausgebildeter Cellist, besass einen juristischenDoktortitel und machte mit schnellen Autos, als Skifahrer und als Pas- sagier auf den ersten Fluglinien von sich reden. Früh ent- deckte er das Tagebuch als die ihm gemässe literarische Form und sah darin «den Rückhalt, wenn nicht das Zent- rumseines Lebens». Schon 1927 hatte er ein «Tagebuch eines Einsamen» veröffentlichenwollen. Über sich hinauswuchs er aber erst, als er im gleichen Jahr mit seinem Bruder zu- sammen auf Weltreise ging. Chronist seiner Epoche Nun verstand er sich als Chronist seiner Epoche und dachte bereits beim Schreiben ans Publizieren. Vor allem in den USA deckte er ein breites Spektrum des gesellschaftlichen Lebens ab, porträtierte spannende Persönlichkeiten, schrieb über Konzertemit Furtwängler und Toscanini und befasste sichmit der früheren und aktuellenKunst, dachte er doch daran, in Europa später eine Kunstgalerie zu er­ öffnen. Bemerkenswert sind vor allemdie Notate über das Verhalten der Jugend, der er sich mit Leib und Seele zuge- hörig fühlte. «Wir sind die neue Generation, an uns liegt es, anders zu denken», verkündete er und erklärte Plato, Spinoza und Schopenhauer zuDilettanten, bei denen er sich frage: «Wie hätten sie denn etwas Absolutes geschaffen, das zu befolgen wäre?» Über Japan, Korea und Russland kehrt Mettler 1928 in die Schweiz zurück, holt sich aber unterwegs eine Amöben­ Infektion, die er nur schwer wieder losbringt. Sein USA­ Tagebuch hat er in eine druckfertige Fassung gebracht, als er imMärz 1929 nach Paris aufbricht, umda eine Galerie zu eröffnen. Auch in der Seine-Stadt führt er Tagebuch und Wacher Blick auf das Amerika der späten Zwanzigerjahre Kurt Mettler starb 1930 mit 25 Jahren und hinterliess ein bemerkenswertes Tagebuch, das erst viele Jahrzehnte später an die Öffentlichkeit gelangte. «Die Frauen werden dieses Tagebuch nicht richtig verstehen und was die eigentliche Stärke daran ist. Aber nur darum nicht, weil sie nicht wagen, etwas anzuerkennen, ohne sich bei den Männern die Erlaubnis zu holen. Im Grund wird niemand besser erfassen, was hier gemeint ist und was damit gewirkt wird. Denn sie haben für alles einen unmittelbareren Blick als wir andern.» (Kurt Mettler, 4. September 1927) BIBLIOGRAFIE: Kurt Mettler: «Tagebücher 1927–1930», herausgegeben und kommentiert von André Weibel. Limmat-Verlag, Zürich, 2019, 1040 Seiten, Fr. 59.–

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