Schweizer Revue 2/2020

Schweizer Revue / April 2020 / Nr.2 3 Rotkäppchen fragt: «Grossmutter, was hast du für ein entsetzlich grosses Maul?» Der als Grossmutter verkleidete Wolf antwortet: «Dass ich dich besser fressen kann!» Er hechtet aus dem Bett, verschlingt das arme Rotkäppchen, legt sich wieder ins Bett und beginnt laut zu schnarchen. Wir kennen sie alle, die Gruselgeschichte fürs Vorschulalter. Sie lehrt die Jüngsten das Fürchten: Traue nie einemWolf. DasMärchen hat diesenMai in der Schweiz grosse Aktualität: Die Schwei­ zerinnen und Schweizer, die den Wolf zumeist nur als mysteriöses Fabel­ wesen kennen, müssen an der Urne entscheiden, wie sie es dennmit diesem Wildtier halten. Sie stimmen übers Jagdgesetz ab und entscheiden dabei, ob das in die Schweizer Alpen und den Jura zurückgekehrteWildtier wie bisher möglichst stark geschützt werden soll oder ob man Wölfe, die ja durchaus auch Nutztiere reissen, künftig sogar präventiv soll abschiessen dürfen. Rotkäppchen spielt bei dieser Abstimmung im Hintergrund mit: Letzt­ lich ist es nämlich ein von schönen und schaurigen Projektionen genährtes Kräftemessen, ein sehr emotionales Plebiszit in Sachen Naturverständnis. Hier tierliebende Städterinnen und Städter, die den Wolf mythologisch als Symbol für die wildromantische Wildheit der Natur verklären. Da schaf­ züchtende Berglerinnen und Bergler, die imWolf bloss die Bestie sehen, eine raubtierfreie Schweiz fordern und sich von den Städtern entmündigt fühlen. Es droht der Schweiz ein neuerlicher Stadt-Land-Riss. Den realen Wolf wird das Abstimmungsergebnis kaum kümmern. Er erobert im Alpenraum und im Jura nach und nach Lebensraum zurück. Er wird das unabhängig von den Jas undNeins auf den Stimmzettelnweiter tun. Hoffentlichwird er das weiter tun! Mitten in der verstörenden Biodiversitäts­ krise, dem Artensterben, das auch in der Schweiz immer offensichtlicher wird, steht derWolf nämlich auch für das Prinzip Hoffnung: Ein Verschwun­ dener, ein Ausgerotteter, ist wieder da. Wir folgen ab Seite 6 seinen Spuren. Gar nicht in der mythenbeladenen Märchenwelt angesiedelt ist das Kernthema der sogenannten «Begrenzungsinitiative», über die das Volk eben­ falls am 17. Mai entscheiden wird. Es ist eine Initiative mit Krallen und Biss: Bei einem Ja zu diesem von der SVP eingereichten Begehren müsste die Schweiz das Abkommen mit der EU über die Personenfreizügigkeit auf­ kündigen (siehe Seite 10). Die Folgenwärenweitreichend, insbesondere auch für die rund 460000 in einem EU-Land lebenden Auslandschweizerinnen und -schweizer, die in besonderemMass auf gute Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU angewiesen sind. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR Editorial 4 Briefkasten 6 Schwerpunkt Der Wolf ist zurück – und er dürfte in der Schweiz bleiben 10 Politik SVP-Initiative stellt das Verhältnis Schweiz–EU gründlich auf die Probe Simonetta Sommaruga, die gärtenliebende Bundespräsidentin Herr Bundeskanzler, wie weiter? Walter Thurnherr über E-Voting Nachrichten aus Ihrer Region 16 Reportage Wie Leysin mit all seinen Einwohnern ohne Schweizer Pass lebt 22 Gesellschaft Eine Sprachkrise? Immer weniger Schulkinder verstehen, was sie lesen 23 Schweizer Zahlen 24 ASO-Informationen 26 news.admin.ch 28 Gesehen Die autogerechte Stadt erobert Lebensraum zurück: Baden 30 Gelesen/Gehört 31 Herausgepickt/Nachrichten Inhalt Wie halten wir es mit demWolf? Titelbild: Wolfsspuren im Schnee, Region Calanda (GR). Foto Peter A. Dettling Herausgeberin der «Schweizer Revue», dem Informationsmagazin für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation (ASO).

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