Schweizer Revue 2/2020
Schweizer Revue / April 2020 / Nr.2 30 Philipp Fankhauser ist äusserlich eine über- aus schweizerische Erscheinung. Er erinnert eher an einen Buchhalter denn an einen Blueser, der das Leben am eigenen Leib zu spüren bekommen hat. Aber dieser Sänger und Gitarrist ist seit Jahren der bekannteste Bluesmusiker unseres Landes. Seit demersten Album von Philipp Fankhauser sind bereits 30 Jahre vergangen, das aktuelleWerk «Let Life Flow» ist sein 16. Statement als Solokünstler. Das neue Album bringt die Stärken des 56-jährigen Thuners einmal mehr auf den Punkt. Die fünfzehn Songs vereinen denBlues mit sanftemSoul und Pop. DieMusik besticht durch Groove und Leidenschaft, eingängige Melodien und zugängliche Arrangements. Fankhausers Stimme kratzt dem Genre entsprechend, seine kaum verzerrte Gitarre ist gefühlvoll und virtuos, ein Bläsersatz erinnert anNewOrleans. Die Band umdie gestandenenGrössenHendrixAckle am Keyboard und Richard Cousins am Bass spielt rund, der grossar- tige Frauenchor The Shoals Sisters verleiht den Aufnahmen einen Hauch von Gospel. «Cold Cold Winter» ist ein schneller Shuffle, «Here In My Arms» eine starke Down-tempo-Nummer, «You’ve Got To Hurt Before You Heal» eine schnulzige Soulballade, «Wave You Goodbye» der erdigste Blues des Albums: Philipp Fankhauser spannt auf seinemneuenWerk, das teilweise in den Südstaatenmit einheimischenGästen aufgenom- menwurde, denüblichenBogen. Einzigmit demMundartlied «Chasch Mers Gloube», einemTribut an den verstorbenenMusiker Hanery Am- man, betritt der Sänger Neuland. Noch nie hat er auf seinen Alben auf Berndeutsch gesungen. Aussergewöhnlich ist auch seine Version von Lucio Dallas «Milano», interpretiert in originalem Italienisch. Inwelcher Sprache auch immer, die Lieder auf «Let Life Flow» klin- gen amEnde stets transparent und geradezu proper produziert. Ecken und Kanten gehören zu diesem Amalgam weniger dazu. So gesehen passt der Sound von Philipp Fankhauser besser zu seiner schweizeri- schen Erscheinung, als man auf den ersten Ton erkennen mag. Eine Schwäche ist das nicht. Sondern authentisch. MARKO LEHTINEN Vier Jugendlichewachsen in einemVorort von Manchester komplett verwahrlost auf. Die problembeladenen Eltern sind entweder in- existent oder alkoholisiert. Die Menschen rundherum stecken voller Aggressivität oder sind total apathisch. Der Hass auf Minderhei- ten und auf Frauen ist gewaltig. Die Jugendli- chen erlebenArmut, sexuelle Gewalt, Drogen- konsum und Diskriminierung. Sie beschlies- sen, dieser Welt zu entfliehen, und gelangen nach London. Dort nisten sie sich in einer aus- gedienten Fabrik am Stadtrand ein und pla- nen Rache an ihren Peinigern. Sie wachsen in einer tief gespaltenen Gesellschaft heran, in der Algorithmen, künstliche Intelligenz und einigewenige alte Politiker über das Lebender Menschen bestimmen. Die vier versuchen, sichvor diesemundemokratischenÜberwachungsstaat abzuschirmen und ihre eigene Revolution durchzuziehen. Sibylle Berg hatmit demBuch «GRM.Brainfuck» einen bedrücken- den, apokalyptischenRoman geschrieben. Der Titel nimmt Bezug auf die Grime-Musik, eine schnelle und düstereMusikformaus demheu- tigen Grossbritannien, und auf die Programmiersprache Brainfuck. Die ersten zweihundert Seiten in der rüden und schonungslosen Sprache fordern den Leserinnen und Lesern einiges ab. Die Kost wird danach zwar nicht leichter, doch die Jugendlichen agieren aktiver und weniger hilflos. Die Szenen wirken oft gleichzeitig grausam und ko- misch. Die fliessende Struktur des Romans kommt ohne Kapitel aus. Mit Hilfe einer Erzählstimme aus demOff schwenkt die Autorin von einer Figur zur anderen. «GRM.Brainfuck» ist keine Lektüre für Zart- besaitete. Es schmerzt zu lesen, wie viele Leute ohne jegliche Zu- kunftsperspektive aus dem Leben gedrängt werden. ImNovember 2019 erhielt das Buch den Schweizer Buchpreis. Die Jury sagte in ihrem Entscheid: «Es ist der Autorin das Kunststück ge- lungen, einen Roman zu schreiben, der formal Avantgarde ist und in- haltlich die Lesenden im Innersten packt.» Im Februar 2020 wurde die Autorin für ihr Gesamtwerk mit dem Schweizer Grand Prix Lite- ratur 2020 ausgezeichnet. Wer sich an das Werk von Sibylle Berg he- rantasten möchte, steigt besser mit ihrem ersten Roman «Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot» ein. Sibylle Berg wurde 1962 in Weimar geboren. 1984 beantragte sie die Ausreise aus der DDRund konnte in die BundesrepublikDeutsch- land übersiedeln. Seit 1994 lebt sie in Zürich. Die 15 Romane der deutsch-schweizerischen Autorin wurden in über 30 Sprachen über- setzt (siehe auch Kurzportrait auf Seite 31). RUTH VON GUNTEN Ein Thuner hat den Blues Ist das leben? Gehört Gelesen SIBYLLE BERG: «GRM.Brainfuck» Kiepenheuer&Witsch Verlag, 2019, 640 Seiten; CHF 35, € ca. 25 Auch als Hörbuch und e-book erhältlich PHILIPP FANKHAUSER: «Let Life Flow», Sony Music
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