Schweizer Revue 2/2020

Schweizer Revue / April 2020 / Nr.2 9 INTERVIEW: THEODORA PETER Wie viel Wölfe erträgt die kleinräumige Schweiz? Reinhard Schnidrig: Die Zahl der Wölfe ist weniger ent­ scheidend.Wichtig ist, dass dieWölfe ihre natürliche Scheu bewahren. Platz hätte es in den Schweizer Alpen und im Jura für rund 60 Rudel mit 300 Tieren. Das ist die ökologi­ sche Kapazitätsgrenze. Die untere Grenze liegt beimArten­ schutz: UmdenWolf über mehrere Generationen zu erhal­ ten, braucht es rund 20 Rudel. Wir müssen das Wachstum aber steuern, umeinNebeneinander vonMensch undWolf zu ermöglichen. Werden wir die Präsenz des Wolfs eines Tages nicht einfach wieder als normal empfinden? In den letzten 20 Jahren hat sich eine gewisse Toleranz entwickelt. AmAnfang führte jeder einzelne Wolf zu Dis­ kussionen. Das hat sich zumGlück gelegt. Tatsache ist: Der Wolf ist da, und er wird bleiben. Aber die örtliche Bevöl­ kerung wird es nicht akzeptieren, dass ein Wolf am hell­ lichten Tag durch ein Dorf spaziert. Der Wolf gehört in den Wald und in die Berge. Er soll den Lebensraum des Menschen und seiner Nutztiere respektieren. Das Wolfs­ management sowie das neue Jagdgesetz tragen dazu bei, Konflikte zu vermeiden. Wie gefährlich ist der Wolf für den Menschen? Der Wolf ist nicht grundsätzlich gefährlich für den Men­ schen. Im Alpenraum ist es in jüngerer Zeit nie zu Angrif­ fen auf Menschen gekommen. Mitteleuropäische Wölfe haben aufgrund der Verfolgung während Jahrhunderten gelernt, denMenschen zumeiden. DerWolf lernt aber sehr schnell, wenn ihm keine Gefahr mehr droht. Dann nähert er sich immer mehr demSiedlungsrauman. Ziel desWolfs­ managements ist es, die natürliche Scheu des Wolfs zu er­ halten. Ein Rudel muss spüren, dass der Mensch nicht nur harmlos ist. Lässt sich das Verhalten des Wolfs überhaupt steuern? BeimWolfsmanagement ist geschicktes Tun und Lassen ge­ fragt. Handeln muss man zum Beispiel dann, wenn Wölfe lernen, Herdenschutzmassnahmen zu umgehen. Dann «Wölfe müssen spüren, dass der Mensch nicht nur harmlos ist» Um ein Nebeneinander von Mensch und Wolf zu ermöglichen, brauche es eine Regulierung des Wolfsbestandes, sagt Reinhard Schnidrig. Der oberste Wildhüter der Schweiz plädiert für einen nüchternen Blick auf ein Wildtier, das oft entweder verteufelt oder idealisiert wird. mussman verhindern, dass dieWölfe dieses Verhalten per­ fektionieren. WennWildhüter amOrt des Schadens einen Jungwolf aus dem Rudel erlegen, dann lernen die Eltern­ tiere, Menschen zumeidenundHerdenschutzmassnahmen zu respektieren. Die Erfahrung mit solchen Abschüssen zeigt, dass der Lerneffekt wirkt. So liess sich einRudel nicht mehr blicken, nachdem die Wildhüter einen Jungwolf er­ legt hatten. Kann man die Regulierung des Wolfsbestandes nicht der Natur überlassen? In denweitenWäldernAlaskas ist dasmöglich, in der dicht besiedelten und genutzten Schweiz nicht.Wennwir nichts tun und das revidierte Jagdgesetz abgelehnt wird, haben die Kantone kein Instrument, um den wachsenden Wolfs­ bestand vorausschauend zu steuern. Es mag herzlos er­ scheinen, einen Jungwolf abzuschiessen. Aber Mitleid mit dem Einzeltier hilft nicht weiter, wenn es darum geht, im Interesse des Artenschutzes eine Population langfristig zu erhalten. Der Wolf wird oft entweder idealisiert oder verteufelt. Weshalb? Der Wolf ist weder eine Bestie noch eignet er sich zur Ver­ klärung. Er ist ein sehr anpassungsfähiges und hoch lernfähiges Wildtier, das wie der Mensch in Familienver­ bänden lebt. Naturvölker verehrten den Wolf. Erst im Mittelalter entwickelte sich der Wolf zum Feindbild, weil er die Nutztiere der Bevölkerung angriff. Obwohl Wölfe keineMenschen töteten, machten sie sich auf den Schlacht­ feldern des Mittelalters über Leichenteile her. Der Mythos des «bösen Wolfs» fand schliesslich auch Eingang in Mär­ chen wie «Rotkäppchen». Zur Person: Reinhard Schnidrig leitet die Sektion Wildtiere und Biodiversität im Bundesamt für Umwelt (Bafu). Mit dem Wolf beschäftigt er sich seit bald 25 Jahren. In der Schweiz ist er noch keinem frei lebenden Wolf begegnet, in Alaska und in der Mongolei hingegen schon.

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