Schweizer Revue 4/2020

Schweizer Revue / Juli 2020 / Nr.4 13 wohnhaft, beantwortet worden ist. Die noch unveröffentlichte Studie zeigt, dass 46 Prozent der Antworten- den ihre Lockdown-Situation als Pri- vileg erlebt haben. Diese Personen konnten online weiterarbeiten oder waren auf Kurzarbeit gesetzt – und so- mit einkommensmässig weitgehend abgesichert. Demgegenüber gaben 12 Prozent an, ihre psychische Belastung sei gestiegen und ihre Lebensqualität gesunken. Das schlechteste Los zogen die 34 Prozent «Schiffbrüchigen», die ihre Arbeit verloren haben oder ihr Geschäft schliessen mussten. Fanny Parise vergleicht den Lock- down mit einem Übergangsritus. Sie stellt fest, dass die vertrauten sozialen Rollen und Funktionen umgekrem- pelt worden sind. «Diesmal hatte der ‹Feind› kein Gesicht, und dasselbe gilt für die Helden. Ganze Berufsgruppen haben diese Funktion übernommen. Die Mitarbeitenden an den Kassen spielten sichtbar die Rolle der unent- behrlichen Zahnräder der Maschine- rie, das medizinische Personal dieje- nige der Retter. Andere Berufe, die normalerweise ganz oben stehen, ver- loren rasch an Bedeutung, insbeson- dere imDienstleistungssektor. Zuvor unter Stress stehende Mitarbeitende hatten plötzlich mehr als genug Zeit.» Marie Cénecs Reaktion: «Ichwar über die Ungleichheit der Situationen er- staunt.» Eines zeige sich rückblickend klar: «Je nach Alter, Wohnort, Lebens- standard sowie sozialer und familiärer Situation haben die Men- schen den Lockdown komplett unter- schiedlich erlebt.» Stress oder Kontemplation Menschen im Lockdown, die keinem starken beruflichen oder familiären Stress ausgesetzt waren, empfanden die Zeit als angenehm gedehnt. Sie entdeckten das Dolcefarniente und dieMeditation für sich. «DieDecke an- zustarren oder aus dem Fenster zu schauenwurde als positiv empfunden, obwohl dies zuvor als Müssiggang galt», sagt Fanny Parise. Diese Gruppe nutzte die neu gewonnene Zeit für Sport und fürs Basteln, Backen oder Kochen. «Ob dies nun die Ernährung oder den Alkohol betrifft: Die Men- schen reagierten entweder dionysisch oder asketisch», sagt die Forscherin. Letzteres könnte als Reaktion auf den Überfluss der bisherigen Lebensweise betrachtet werden. «Gläubige Menschen waren für den Kampf gegen Angst, Einsamkeit und Entbehrung gewappnet», konsta- tiert die Genfer Pfarrerin. In der an- thropologischen Studie bewerteten 46 Prozent der Befragten die Pande- mie als eine erste Erscheinung des Zerfalls der Weltordnung. 51 Prozent gaben an, dass sie nach alternativen Erklärungen zu denjenigen der Me- dien gesucht haben. «Jeder Bürger wurde zum Corona- Virus-Experten, umso mehr, als die Regierungen selbst die Pandemie auch von Tag zu Tag neu kennenlernen mussten», kommentiert die französi- sche Forscherin. Die Gläubigen konn- ten die Geschehnisse in eine bereits strukturierte Logik einbinden, «wel- che das Bestehen von Prüfungen zum Thema hat und innerhalb deren man darauf hoffen kann, Schwierigkeiten zu überwinden und innerlich daran zu wachsen», erklärt Marie Cénec. Zugleich war die Pandemie Nähr- boden kühner Theorien. Einige be- trachten das 5G-Mobilnetz als ihr Auslöser. Andere sehen in ihr eine Weltverschwörung. Und viele werten die Tierseuche als Konsequenz eines Unrechts, das dem Planeten angetan worden ist. «Die Geschichte der Fle- dermaus vomMarkt inWuhan, die ei- nen Menschen ansteckt, ist greifbar. Sie übernimmt die Funktion einer Fa- bel», meint Fanny Parise.

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