Schweizer Revue 4/2020
Schweizer Revue / Juli 2020 / Nr.4 20 Davi, der auch als begnadeter Übersetzer hervortrat – Dür- renmatt, Hilde Domin und eine ganze Reihe seiner Schwei- zer Kollegen übertrug er ins Spanische –, war aber nicht bereit, umdes künstlerisch SchönenwillenUnrecht zu ver- schweigen. So thematisierte ermehrfach die Schrecken der Franco-Diktatur, in einem Gedicht über die Nationalbib liothek von Buenos Aires kamer 1990 auf die ungesühnten Menschenrechtsverletzungen der argentinischen Militär- diktatur zu sprechen – «Oder gilt in diesen Breitengraden und andern ein Mensch vielleicht/ weniger als ein Buch oder ein Dokument?» –, und noch 2000 beklagte er eine Flüchtlingspolitik, der gültige Ausweispapieremehr gelten als menschliche Not. Provinzielle Engstirnigkeit Während Davi in Spanien höchste Anerkennung genoss, war er der Schweiz zuwenig schweizerisch. 2015, als er den Nachlass demSchweizerischen Literaturarchiv in Bern ver- machen wollte, bekam er von dessen Leiterin die Antwort, es sei nicht möglich, ihn aufzunehmen, weil in Bern nie- mand in der Lage sei, auf Spanisch verfasste Handschriften zu archivieren! Die Liebe zu Spanien, zur spanischen Spra- che und zu den Landschaften seiner Träume aber wollte Davi bis zuletzt nicht einem wie immer gearteten Schwei- zer Patriotismus opfern. Noch das «Gebet eines alten Man- nes» von 1999 endete auf grossartige Weise mit dem Wunsch: «Ser algo: /un hálito del viento de la mañana / un polvillo de la estrella polar / una fugitiva huella/ en tus su- eños lúcidos.» [«Etwas sein: ein Hauch des Morgenwinds/ ein Stäubchendes Polarsterns / eine flüchtige Spur /in dei- nen lichtesten Träumen.»] CHARLES LINSMAYER IST LITERATURWIS- SENSCHAFTLER UND JOURNALIST IN ZÜRICH CHARLES LINSMAYER Gibt es das: einen Autor, der von einem als Kind erlebten fernen Land ein Leben lang bewegt und getragen ist und in dessen Sprache so authentisch und gekonnt zu dichten vermag, dass einer der grössten, mit dem Nobelpreis aus- gezeichnetenAutoren jenes Landes sagen kann, er sei «vom Zauber und der Zartheit seiner Lieder überrascht»? Doch, ja, das gibt es! Der Autor war Hans Leopold Davi, das ferne Land die spanische Insel Teneriffa. Er wurde dort als Sohn von aus Kaltbrunn (SG) eingewanderten Eltern am 10. Ja- nuar 1928 geboren. Und sein prominenter Bewundererwar der spanische Dichter Vicente Aleixandre (1898-1984). Deutsche Premiere in Paris Davi besuchte auf Teneriffa die Volksschule, kam mit 19 ans GymnasiumSt.Gallen und absolvierte nach einer Buch- händlerlehre in Zürich ein Praktikum in Paris. Dort druckte 1952 die Druckerei Georges Girard in deutscher Sprache seinen Erstling, die «Gedichte einer Jugend», von denen eines, «NächtlicheHeimkehr», die Verse enthielt: «Wo ist das Du, das unbekannte,/ Das meine Träume nährt? / Wo ist das Du, das unbenannte, / Das Heimatmir gewährt?» Schon der Zweitling, «Spuren am Strand» (1956), enthielt jedoch nur noch spanisch geschriebene Gedichte in eige- ner Übersetzung. Was erneut bei den 1959 erschienenen «Kinderliedern» der Fall war, die Vicente Aleixandre so sehr begeisterten, undwas sich auch imBand «Stein undWolke» von 1961, ja in seinen sämtlichen Lyrikbänden bis hin zum letzten, der 2000 unter demDoppeltitel «Me escaparé por el Hueco de la Chimenea» /«Ich werde durchs Kaminloch entkommen» erschien, ausnahmslos fortsetzte. Spanisch dichten in der Schweiz Bei lakonischer Verknappung der sprachlichen Form sind die Gedichte dieses von 1953 bis zu seinem Tod am 12.August 2016mit seiner Frau, der Malerin Silvia Davi, in Luzern wohnhaften Autors von einer hohen geistigen Konzentration und grosser lyrischer Intensität. Sie stehen in der grossen Tradition der spanischen Lyrik und bleiben bei aller gelegentlichen Kühnheit im Formalen stets klar und verständlich. Thematisch umfassen sie die Verwunde- rung über das Unheimlich-Unbegreifliche ebenso wie die Suche nach dem unbekannten Gott, und im Tiefsten sind es fast immer Versuche, dem Sinn des Lebens, des Todes und der Liebe näherzukommen. Meisterschaft ist in jeder Sprache möglich Ein St.Galler Lyriker schrieb in spanischer Sprache Schweizer Literaturgeschichte HEIMAT Dieses Häufchen Erde, auf dem ich bin und meine Füsse habe und jenes andere, unbekannte, weite Land, in dem ich nicht bin, wohin mich aber meine Flügel tragen! (Hans Leopold Davi, aus «Spuren am Strand», Diogenes, Zürich 1956, vergriffen) Literaturserie BIBLIOGRAFIE: Im orte-Verlag sind die Gedichte «Ein Reisepass für das Wort» von 2000, bei Pro Libro in Luzern die Jugenderinnerungen «Erlebtes und Erdachtes» von 2007 greifbar.
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