Schweizer Revue 4/2020

Schweizer Revue / Juli 2020 / Nr.4 25 die Erhaltung ihrer Lebensweise tun. Ungeachtet dieser positiven Grund­ haltung nehmen die Sorgen der fah­ renden Jenischen und Sinti nicht ab. Sie beklagen etwa, die Zahl der Halte­ plätze für Fahrende nähmen nicht zu, sondern ab. Und Projekte für neue Plätze scheiterten oft an lokaler Op­ position. Besonders hoch gehen die Emo­ tionen, wenn Behörden versuchen, Halteplätze für ausländische Roma zu schaffen. Viele Schweizer Jenische und Sinti sind für solche Angebote. Denn: Sie spürten, wie sich die hoch­ gekochten Vorurteile gegen ausländi­ sche Fahrende auch gegen sie richte­ ten. Es brauche also fürs konfliktfreie Miteinander geeignete Nischen für alle. Ein Debakel drohte kurz vor der Publikation der erwähnten Umfrage. Alles deutete im Februar darauf hin, dass im Kanton Bern das Volk einen geplanten Platz für ausländische Fah­ rendewuchtig ablehnenwürde. Doch der nötige Kredit wurde vom Souve­ MARC LETTAU Die facettenreiche Schweiz ist voller sprachlicher und kultureller Minder­ heiten. Das Zusammenleben von Mehrheit undMinderheitenwill trotz dieser Grunderfahrung nicht immer gelingen. Das spüren etwa die beiden anerkannten Minderheiten der Jeni­ schen und der Sinti. Besonders jene von ihnen, die noch die fahrende Lebensweise pflegen, sindVorurteilen ausgesetzt. Tauchen in der Schweiz Gespanne ausländischer Roma auf, ist die Stimmung rasch sehr gereizt. Doch die Schweizerinnen und Schweizer akzeptieren die Lebens­ weise der Fahrenden offensichtlich besser als allgemein angenommen. Das zeigt eine im März vorgelegte, repräsentative Studie des Bundesam­ tes für Statistik und der Fachstelle für Rassismusbekämpfung. 67 Prozent der Befragten sehen die fahrende Le­ bensweise der hierzulande verwur­ zelten Jenischen und Sinti als Teil der Schweizer Vielfalt. 56 Prozent finden zudem, die Schweiz müsse mehr für Gesellschaft Lichtblicke für Jenische, Sinti und Roma Wandelt sich das gesellschaftliche Klima? – Ein Gesetz, das Fahrende diskriminiert, wird annulliert. Das Volk sagt Ja zu einem umstrittenen Platz für Fahrende. Und eine Umfrage zeigt, dass die Mehrheit die Lebensweise der fahrenden Minderheiten akzeptiert. rän klar angenommen (53,5 Prozent Ja). Gebaut wird der Platz unweit des kleinen Bauerndorfs Wileroltigen. Zuerst dieser unerwartete Volks­ entscheid. Dann die Studie mit ihrer erhellenden Aussage. Und Ende April folgte schliesslich ein wegweisendes Urteil: Das Bundesgericht annullierte Teile des bernischen Polizeigesetzes. Das Gesetz enthielt gegen Fahrende gerichtete Passagen. Es schuf dieMög­ lichkeit, Fahrende, die sich auf einem Grundstück niederlassen, sehr schnell und unter Strafandrohung wegzuweisen, ohne ihnen dabei das in der Schweiz übliche rechtliche Ge­ hör zu gewähren. Das Bundesgericht urteilte, ein solches Sondergesetz sei verfassungswidrig. Die «Radgenossen­ schaft der Landstrasse», die Dachor­ ganisation der Jenischen und der Sinti der Schweiz, nennt das Urteil «einen wichtigen Schritt für die Verankerung des Minderheitenschutzes in der Schweiz». Und die Gesellschaft für bedrohte Völker bezeichnete den Ent­ scheid der obersten Schweizer Rich­ ter als «Präzedenzfall gegen diskri­ minierende Sondergesetze». Volksentscheid, Umfrage, Richter­ spruch: ImGesprächmit der «Schwei­ zer Revue» bezeichnen Vertreter der Jenischen, Sinti und Roma die drei Signale als ermutigende «Lichtblicke». Die grosse Befreiung sei dies aber noch nicht, denn ihre Lage bleibe schwierig. Wenns konkret werde, schwinde auch das Wohlwollen ge­ genüber Fahrenden rasch. Das Platz­ projekt inWileroltigen illustriert dies. Vombernischen Stimmvolkwurde es klar angenommen. Doch in Wilerol­ tigen stemmten sich 91 von 100 Stim­ menden gegen das Vorhaben. Schweizer Fahrende während einem ein- vernehmlichen Halt auf dem Hof eines Bauern im zürcheri- schen Bäretswil. Foto Danielle Liniger Die Ergebnisse der Umfrage zur fahrenden Lebensweise: ogy.de/vielfalt-schweiz

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