Schweizer Revue 4/2020
Schweizer Revue / Juli 2020 / Nr.4 7 Stets im Vordergrund (links): Alain Berset und Daniel Koch, die zwei prägenden Gesich- ter während dem Corona-Höhepunkt. Stets im Hintergrund (rechts): Die Teams in den Intensivstationen wie hier im Spital «La Carità» in Locarno, im besonders stark betrof- fenen Kanton Tessin. Fotos Keystone MARC LETTAU Ist das nun bereits die Rückkehr zur vertrauten Normali- tät? Das fragten sichAnfang Juni in der Schweiz viele.Wäh- rend anderswo – etwa in Brasilien – das Virus das Leben erst richtig lähmte, lockerte der Bundesrat die Schweizer Corona-Restriktionen zügig. Subito füllten sich Strassen- cafés mit Leben, Fluss- und Seeufer wurden zu Pick- nick-Meilen, Geschäfte warben wieder um Kundschaft – und alles war durchzogen vom strengen Parfüm von Desinfektionsmittel. Doch «Normalität» ist die klar falsche Etikette. Die Folgen der Pandemie prägen weiterhin bis in alle Ver ästelungen den Alltag: Mehr als ein Drittel aller Erwerbs- tätigen kennt jetzt die Kurzarbeit; Tausende haben ihren Job ganz verloren; und die Furcht, auf die erste Corona- Welle könne eine zweite folgen, bleibt präsent. Die pande- miebedingten gesellschaftlichen Verwerfungen und öko- nomische Erschütterung dürften das Land noch für Jahre prägen. Fürs abschliessende Bilanzieren ist es zu früh. Erlaubt ist die Frage, wie die Schweiz den epidemiolo gischen Höhepunkt der Krise meisterte. Der allgemeine Tenor: zwar ernsthaft erschüttert, trotz allem Leid aber auch erstaunlich gut und diszipliniert. Der Schrecken über die hochschnellenden Fallzahlen und die plötzliche Fragi- lität von allem Vertrauten war hierzulande nicht geringer als anderswo. Aber das Corona-Regime blieb recht milde, weil die allermeisten den behördlichenWeisungen folgten, diszipliniert ihren Bewegungsradius stark einschränkten und gleichzeitig eine vielfältigeNachbarschaftshilfe keimte. Die Voraussetzung für dieses Verhalten schuf letztlich der Bundesrat. Er trat zu Beginn der Krise geeint auf, setzte ganz auf seine Pandemieexperten und blieb in der Folge berechenbar und verständlich. Er appellierte an die Selbstverantwortung des Einzelnen – auch punkto Bewe- gungsfreiheit und Schutzmassnahmen: Weder ein totales «Confinement» noch eine Maskenpflicht wurden verfügt. Und die Behörde schuf bei ihren vielenAuftrittenBilder von einprägsamem, ikonenhaftem Charakter: Auf der einen Seite Gesundheitsminister Alain Berset mit seinem flam- menden Mantra «Bleiben Sie zuhause!», auf der anderen Seite der Mediziner Daniel Koch, der als oberster Pande- miespezialist der Nation ruhig und nüchtern darlegte, was er weiss – und wichtiger noch: was er nicht weiss. Das Beispiel Schweiz zeigt zugleich, wie wichtig in Krisen die weitreichende materielle Absicherung wird. Das Auffangnetz, das sich entfaltete, war stark. Die Staats- hilfe für den Einzelnen – Stichwort Kurzarbeitsentschädi- gung – reicht wesentlich weiter als in vielen anderen Län- dern. Und die Staatshilfe für Firmen in Bedrängnis ist weit entschiedener als imumliegenden Europa: Der Staat bürgt zu 100 Prozent für die Hilfskredite, die die Firmen unbü- rokratisch bei ihrenHausbanken abholen durften. Auslän- discheMedien kommentierten dies fast verklärend. In den Worten des Deutschen Magazins Focus: «Von solchen Ver- hältnissen können deutsche Firmenchefs nur träumen.» Verklärung ist aber nicht angebracht: Die Schweiz war nicht besser auf die Pandemie vorbereitet als andere Indus- trienationen. Das Land verfügte zwar über eine nationale Spitalplanung für den Pandemiefall. Aber die Kantone hat- ten diese Pläne – ganz sparbewusst – nicht umgesetzt. Die Lager für wichtige medizinische Güter waren keineswegs voll, sondern halbleer. Und auch die Disziplin der Schwei- zerinnen und Schweizer war endlich. Im Mai begann die Geduld zu schwinden. Aber im Juni setzte der Bundesrat der steigenden Ungeduld ein Ende.
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