Schweizer Revue 4/2020
Schweizer Revue / Juli 2020 / Nr.4 9 Beitrag ist in einem Land, das stark auf Eigenverantwortung setzt, von Bedeutung. Mit der Kinderbetreuung durch die Grosseltern etwa sparen Familien und Staat jährlich acht Mil liarden Franken. Dafür alimentieren die Erwerbstätigen mit ihren Lohn abgaben seit über siebzig Jahren die AHV-Renten. Der Generationenver trag, wie der Zusammenhalt zwischen Jung und Alt genannt wird, hat in der Schweiz Tradition. «Sündenbock gefunden» In der Krise kam es nun zum Stress test. Das Ergebnis ist zwiespältig. Einerseitswar grosseHilfsbereitschaft spürbar. Vielerorts wurden Ältere spontan unterstützt. Oft waren es Junge, die beispielsweise für ältere Nachbarn einkaufen gingen. Ander seits rechnetenZyniker bald vor, dass die Alten doch auch ohne Corona bald stürben. Sie blieben zwar in der Min derheit. Doch Politik und Medien er laubten sich die Frage, obwirklich die ganze Schweiz stillgelegt werden müsse, um die gefährdeten Betagten zu schützen. Die Forderung tauchte auf, die Rentnermit ihren gesicherten Einkommen sollten für einen Teil der gewaltigen Kosten des Lockdowns aufkommen. Sonst zahlten jüngere Generationen noch lange die Zeche. Unter denÄlteren selber regte sich mit der Zeit Unmut. Während viele die Einschränkungen gelassen ertru gen, taten sich besonders die jüngeren Älteren – die autonomieversessenen Babyboomer-Jahrgänge – schwer mit ihrer neuen Rolle. Plötzlich waren sie nur nochRisikogruppe und Belastung, anstatt Stützen der Gesellschaft. Ei nige erlebten Beschimpfungen, weil sie das Haus verliessen. Dabei war das in der Schweiz immer erlaubt. Zum ersten Mal in seinem Leben habe er Diskriminierung gespürt, sagte ein 74-Jähriger demSchweizer Fernsehen. Was ist da passiert? «In der angespann ten Lage wurde mit den Alten ein Sündenbock gefunden», sagt die Ge nerationenforscherin Pasqualina Per rig-Chiello. Die Krise habe latent vor handene negative Altersbilder zutage gefördert. Folgen für die AHV? Die Berner Wissenschaftlerin sagt, das Alter sei «übergeneralisiert» wor den: alle gebrechlich, allewohlhabend. Das entspreche nicht der Realität. Perrig-Chiello kritisiert, die Verallge meinerung sei auch von den politisch Verantwortlichen kolportiert worden. Offen bleibt die längerfristige Wir kung der Corona-Krise. Sozialpoli tisch wurde schon vor dem Virus in tensiv über «Generationenkonflikte» debattiert: Die Schweizer Bevölkerung altert rein demografisch, bei den Sozi alwerken wird um Lösungen gerun gen, für die Pflege, die Altersvorsorge. Nach Corona werde der Verteilkampf nun härter, prognostizierte die «NZZ am Sonntag». Die Jungenmüssten ent lastet werden, der Generationenver trag sei brüchig. Pasqualina Perrig-Chiello findet, die Epidemie habe eher offengelegt, «wie wenig die Generationen auf ge sellschaftlicher Ebene voneinander wissen». Gleichzeitig habe die Schweiz, «allenmedialenDiskursen zumTrotz», eine beachtliche Solidarität zwischen den Generationen erlebt. Das sei eine Chance, daran lasse sich anknüpfen: «Der Generationenvertrag könnte auf einer sachlicherenGrundlage neu aus gehandelt werden.» Dass auch Ältere ihren Teil beitragen, war selbst wäh rend der Epidemie zu erkennen. Das vielleicht auffälligste Beispiel: Pensio nierte Ärzte und Pflegefachpersonen halfen imGesundheitswesenmit, die Ausnahmesituation zu meistern.
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