Schweizer Revue 5/2020
Schweizer Revue / September 2020 / Nr.5 16 Literaturserie kurzen Texte nieder, die imGrunde nichts anderes sind als eine einzige, nie abbrechende Konversationmit einemima ginären Gesprächspartner. Cyklist und Formulierer Von der Nützlichkeit des Fahrrads für denDichter handeln die Texte, vom Glück, im Speisewagen reisen zu können, vom Bahnhofbuffet Bern, vom Lob des Tabaks, von einer nackten Tierbändigerin oder vomKuriosumder sprechen denMaschinen. Und immer gesellt sich zur scharfen Beobachtungs gabe und dem virtuosen sprach lichen Können ein Humor und eine Intelligenz, die demscheinbar harmlosen Parlando etwas Tief sinniges, oft auch Anarchisches verleihen. Dass er nicht nur mit seinen Texten, sondern auch als einOriginal inErinnerung bleiben würde, war dem schrulligen Cyk listen und Formulierer durchaus bewusst. Sonst hätte er seinem Freund Abdul Wahab, als er 1940 des Krieges wegen in der Schweiz festgehalten wurde, nicht den fol genden Auftrag nach Paris über mittelt: «Wenn Du die Gaukler siehst, lass sie imGlauben, dass ich in Paris bin und nur in ein anderes Quartier umgezogen bin. Ich will sie dazu bringen, Legenden über die Leute zu lancieren und zu zeigen, dass deren Schwächen in Wirklichkeit deren Stärken sind.» BIBLIOGRAFIE: In Deutsch ist greifbar: Charles-Albert Cingria, «Ja, jeden Tag neu geboren werden …». Erinnerungen, Glossen, Thesen, Polemiken. Ausgewählt und mit einem biografischen Nachwort versehen von Charles Linsmayer. Reprinted by Huber Nr. 18, Frauenfeld, 2001. CHARLES LINSMAYER IST LITERATURWISSEN- SCHAFTLER UND JOURNALIST IN ZÜRICH CHARLES LINSMAYER Am19. März 1911 kames inGenf vor der Kirche Saint-Joseph zu einer Schlägerei, über die «tout Genève» wochenlang sprach: Weil er sich in einem Leserbrief beleidigt fühlte, schlug Charles-Albert Cingria, 28, von massiger Gestalt, den schmächtigen Schriftstellerkollegen Gonzague de Reynold, 31, mit einem Faustschlag zu Boden. Cingria, Sohn dalmatischer Einwanderer, galt schon als Klosterschüler als «der verrückte Kerl». Immer wieder machte ihmseine Gewaltbereitschaft zu schaffen, diewohl in Zusammenhang mit seiner uneingestandenen Homo sexualität stand. So abstrus seine Ideen oft waren: Als Musikwissenschaftler und Historiker war er unerreicht. Was er schrieb, fand bei seinen Zeitgenossen ungeteilte Be wunderung. Eine Bewunderung mit Folgen: Als er 1926 in Italien wegen Päderastie ins Gefängnis kam, verhalf ihm niemand anders als sein ErzfeindGonzague de Reynold zur Freiheit. «Talking Cingria» Charles-Albert machte insbesondere mit kurzen, überall verstreuten Texten Furore, die man inzwischen unter das Stichwort «Talking Cingria» stellt. Es sind in der ersten Per son geschriebene Erzählungen, die immer im Präsens ge halten sind und stets den Anschein erwecken, als würde jemand ganz direktmit einemsprechen. Fast immer rührt ihre Unmittelbarkeit daher, dass sie auf persönlichen Erlebnissen auf Fahrten und Reisen durch ganz Europa be ruhen. Obwohl Bürger von Genf, lebte Cingria zwischen 1915 und seinem Tod am 1. August 1954 in einem Zimmer in Paris, das der Ausgangspunkt für seine Reisen war. Exzentrisch gekleidet, der typische Dandy jener Epoche, war er dabei fast immer mit dem Fahrrad unterwegs. Bei Freunden zu Gast NachdemVerlust des Familienvermögenswar er auf die Be herbergung bei Freunden angewiesen, für die seineAnkunft jeweils ein halb kurioses, halb spektakuläres Ereignis war. So führte er auf dem Fahrrad eine zusammenklappbare le derne Badewanne mit, in der er im zugewiesenen Gäste zimmer zunächst stets ein Bad nahm, ehe er sich, mit dem Badetuch als Turban, zudenGastgebern andenTisch setzte. Irgendwann setzte er sich dann auch hin und schrieb seine Das Fahrrad als Stimulans für den Dichter Der Genfer Charles-Albert Cingria lebte 39 Jahre in Paris und dokumentierte in kurzen Texten sein Zeitalter als unermüdlich Reisender abgründiger denn jeder andere. «Vor allem muss ich darauf be- stehen, dass das Fahrrad eines Dichters keineswegs unwürdig ist. Es ist im Gegenteil ein sehr grosses Stimulans für ihn. Zunächst ist sie schön, ist sie praktisch, diese Maschine, und zwar aus sich selbst. Aber auch wegen ihrer Lenkstange, um die man schwefelgelbes neben schwarzem und rötlichem Heft- pflaster rollt. Leute, die so etwas kalt lässt, können lange unruhig werden, wenn man von Kunst spricht, aber sie werden auch zu den höchsten Höhepunkten einer griechischen Tragödie keinen Zugang finden.» Aus «Lob des Fahrrads» in «Ja, jeden Tag neu geboren werden», Huber, Frauenfeld, 2001.
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