Schweizer Revue 5/2020

Schweizer Revue / September 2020 / Nr.5 20 Gesellschaft JÜRG STEINER Der Auslöser war ein Video, das die brutale Gewalt eines weissen Polizeibeamten dokumentierte, die Ende Mai in der US-Stadt Minneapolis zum Tod des Afroamerikaners George Floyd führte. Es wurde weltweit auf sozialen Medien geteilt, und Mitte Juni versammelten sich auch in Schweizer Städten teils Tausende meist junger Menschen zu Antirassismus-Demonstrationen. Die Proteste unter dem Slogan «Black Lives Matter» verliefen weitgehend friedlich undwurden von den Behörden toleriert, obschon Einschränkungen imöffentlichenRaumzur Eindämmung des Corona-Virus galten. Aussergewöhnlichwar allerdings nicht die durch einen internationalen Aufreger in die Schweiz importierte Pro- testwelle. Sondern wie dezidiert plötzlich der einheimi- sche Alltagsrassismus gegenüber Menschen schwarzer Hautfarbe thematisiert wurde, obschon die Schweizweder eine aktive Kolonialmacht war noch als Land bekannt ist, in demsich die Staatsgewalt offensichtlich diskriminierend gegenüber Menschen nichtweisser Hautfarbe ausdrückt. «Keine unbehelligte Insel» «Das Bewusstsein, dass die Schweiz in diesen Fragen keine unbehelligte Insel ist, wächst nach meinem Eindruck bei der jüngerenGeneration spürbar», sagt der Historiker Bern- hard C. Schär. «Eigentlich erstaunlich», fügt er an, «denn diesesWissenwird an den Schulennachwie vor noch kaum vermittelt.» Schär forscht an der ETH Zürich und gehört zu einer Gruppe Historikerinnen undHistorikern, die sich bemühen, eine kritische Aufarbeitung der Geschichte der globalisierten Schweiz in den Fokus zu rücken. Dieser gerne verdrängte Blick auf die Schweiz erhält im- mer mehr Resonanz. Auch, weil er der Realität Rechnung trägt, dass 40 Prozent der in der Schweiz lebenden Men- schen Migrationshintergrund haben. Und 70 Prozent der Angestellten von Schweizer Firmen im Ausland arbeiten. «Die Schweiz», sagt Schär, «findet und fand nie nur in der Schweiz und in Europa statt.» Deshalbwürden sich in einer Geschichte, die sich auf die physische Schweiz konzentriert, immer weniger Menschen wiedererkennen. Der offenere Umgangmit der Schweizer Vergangenheit führt dazu, dass man automatisch auf Spuren von Kolonialismus und Rassismus stösst. Das nehmen Schweizerinnen und Schwei- zer auch in ihrem Alltag wahr. Laut einem Bericht der nationalen Fachstelle für Rassismusbekämpfung halten 59 Prozent von ihnen Rassismus für ein bedeutendes Pro- blem, und 36 Prozent der in der Schweiz lebenden Perso- nen mit Migrationshintergrund haben in den untersuch- ten Jahren 2013 bis 2018 Diskriminierungen erlebt, hauptsächlich imArbeitsumfeld oder auf der Stellensuche. Dazu kommt, dass es für junge Schweizerinnen und Schweizer heute normal ist, Kolleginnen und Kollegen zu haben, die anderer Hautfarbe sind. Und die «Generation Youtube» vertieft sich ins Thema Rassismus auch über die sozialen Medien. Clips schwarzer amerikanischer TV­ Comedians wie Trevor Noah, der in Südafrika als Sohn eines ausgewanderten Schweizers geboren wurde, wer- den auch in der Schweiz geschaut. Das verstärkt denDrang, den brutalen rassistischen Übergriff in den USA zum An- lass zu nehmen, die Verhältnisse in der Schweiz zu hinter- fragen, zumal es auch hierzulande Fälle von polizeilicher Gewalt gibt. 2018 etwa starb in Lausanne ein dunkelhäuti- ger Mann an Atemstillstand, nachdem ihn Polizisten am Boden fixiert hatten. Umstrittene Denkmäler Historische Objekte, an denenman sich in der Schweizmit antirassistischem Furor empören kann, gibt es zuhauf. Etwa in Formvon Denkmälern für SchweizerWirtschafts­ pioniere undWissenschaftler, derenVerstrickungen in die koloniale Ausbeutungspraxisman lange nicht wahrhaben wollte. Der Westschweizer Händler David de Pury, der im 18. Jahrhundert am portugiesischen Hof auch dank Skla- venhandels zu Reichtumkamund diesen der Stadt Neuen- burg vermachte, wird daselbst mit einer Bronzestatue ge- ehrt. Kritiker überschütteten sie nach den «Black Lives Matter»-Protesten mit blutroter Farbe und forderten in einer Petition ihre Entfernung. Die Schweiz entdeckt ihren «Kolonialismus ohne Kolonien» Die von den USA ausgehenden Black-Lives-Matter-Proteste gegen Rassismus wühlen die Schweiz auf – überraschend heftig. Warum?

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