Schweizer Revue 6/2020
Schweizer Revue / November 2020 / Nr.6 16 Gesellschaft die geschilderte Tendenz aber schwächer, was «zu einer Kluft zwischen Stadt und Land führt, wo mehrere Autos pro Haushalt normal sind», sagt Vincent Kaufmann. Vertrauen in den öffentlichen Verkehr Gemeinden, die den öffentlichen Raum entlasten wollen, müssen Anreize schaffen. Genau dies tut Bern. «Bei uns be- sitzen Studierende und ältereMenschen keinAuto. Für die anderen, insbesondere Familien, ist der Verzicht aufs Auto eine Sache des Vertrauens. In Bern weiss man, dass man gleich vor der Haustür ein Carsharing-Auto finden kann», fasst Ursula Wyss zusammen. Ausserdem steht den Berne- rinnen und Bernern ein öffentlicher Verkehr erster Güte zur Verfügung. «Bern ist die einzige Stadt in der Schweiz, deren Einwohnerinnen und Einwohner den ÖV ganz oben auf der Liste der Dinge nennen, die sie an ihrer Stadt am meisten schätzen», zitiert die SP-Magistratin aus einer kürzlich durchgeführten Umfrage. Ist das Vertrauen in denÖV erst einmal so hoch, können die Behörden eine der wichtigsten Massnahmen zur Förderung der sanften Mobilität in Angriff nehmen: die Begrenzung der Anzahl Parkplätze. Bern will in den kom- menden Jahren die Hälfte der heute 12000 Parkplätze ab- bauen. Laut Wyss befinden sich die abzubauenden Park- plätze insbesondere auf Trottoirs, wo sie Personen mit Behinderungen störten. Auch Parkplätze entlang von Tramgleisen sollen wegfallen, da sie als gefährlich gelten. Gegen diese Gestaltungspläne leistet die rechtsbürgerliche SVP Widerstand. Ursula Wyss: «Bisher haben wir jedoch von den Gerichten Recht bekommen.» Eine Knacknuss sind die privaten Parkplätze. Bern er- teilt deshalb Baubewilligungen für Mietimmobilien ohne Parkplätze. In Genf dagegen entstehen stets «sehr starke politische Spannungen, sobald ein Bauprojekt den Stellen- wert des Autos inder Stadt verändernwill», sagt Karen Troll, Sprecherin des Département des Infrastructures. «Es ist ein Interessenskonflikt», meint Damien Bonfanti, der grüne Gemeindepräsident von Lancy (GE). «Die Autofahrer wol- len ihre Privilegien verteidigen, was einen anderen Teil der Bevölkerung frustriert.» Der Gemeindepräsident unter- stützt den Bau von Immobilien ohne Parkplätze, sofern aus- reichend Parkiermöglichkeiten in der Umgebung bestehen und die Gebäude gut an denÖV angebunden sind. Damien Bonfanti unterstreicht auch die Kosten inZusammenhang mit Tiefgaragen. Diese belaufen sich auf ungefähr 50000 Franken pro Wohneinheit. Ein weiteres Problem ist, dass Tiefgaragen die Anpflanzung von Bäumen erschweren. Trotzdemgehen die Genfer Quartierpläne nachwie vor von einem hohen Motorisierungsgrad aus. In Allières, einem Quartier in der Nachbarschaft des neuen Bahnhofs Eaux-Vives, werden beispielsweise für 400 Wohnungen über 400 Parkplätze gebaut. «Wirmüssen denVeränderun- gen in den Städten vorgreifen. Die Bauträger fordern übri- gens selbst, weniger unterirdische Parkplätze bauen zu müssen, denn diese stehen letztlich oft leer», sagt Caroline Marti von der Genfer Sektion des Verkehrsclubs der Schweiz (VCS). Sie trägt einen politischenVorstossmit, der die Umsetzung eines autofreien Pilotquartiers fordert. Ganz dem Zeitgeist entsprechend, unterstützen selbst FDP-Parlamentarier das Anliegen. Ein grosser Wendepunkt für Genf Angesichts der Forderungen nach weniger Autos in der Stadt mobilisiert die Genfer Sektion des autofreundlichen Touring Club Schweiz (TCS) alle zur Verfügung stehenden Mittel. Per Referendum bekämpfte der TCS eine Gesetzes änderung, die darauf abzielte, die Pflicht, Parkplätze zu erhalten, zu lockern. Am27. September 2020 stimmten die Genferinnen und Genfer der Gesetzesänderung zu. Sie ge- nehmigt damit de facto den Abbau von 4000 Parkplätzen, insbesondere zugunsten von Velowegen. Dennoch entwickelt sich die Schweiz nicht zu einem autofreien Land und der Verzicht aufs Privatauto bedeutet nicht, dass deutlich weniger Auto gefahren wird. So benut- zen die Schweizerinnen und Schweizer nachwie vor für 50 Prozent derWege und 65 Prozent der zurückgelegten Kilo meter das Auto – wobei die Modelle immer grösser und schwerer werden … Gemeinderätin Ursula Wyss weiht in Bern einen Velo verleih ein. In Bern haben mehr als die Hälfte der Haushalte kein eigenes Auto mehr. Foto Keystone Autos auf der Strasse, Autos über der Strasse: In Genf ist die Stellung des Autos im schweizweiten Vergleich noch sehr dominant. Foto Keystone
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