Schweizer Revue 6/2020

Schweizer Revue / November 2020 / Nr.6 20 Reportage ein Treffenmit demEinsiedler buchen. Für 150 Franken erzählt er eine Stunde lang über sein Leben und seinenAlltag. Das Einsiedlerdasein in der Schweiz muss man sich ganz offensichtlich herbeimanagen. Die «Schweizer Revue» wollte aber doch noch aus erster Hand erfahren, wie sich der Ausstieg aus dem bürgerli- chen Alltag anfühlt. Die Kontaktauf- nahme mit demKloster Einsiedeln in der Zentralschweiz führt zu Pater Philipp Steiner. «Unser Leben imKlos- ter kennt Zeiten des Alleinseins, aber auch Zeiten der Gemeinschaft», schreibt uns der Benediktinermönch. Die Vorfahren der heutigen Mön- che hätten sich schon vor dreihundert Jahren Gedanken gemacht, wie man die Betriebsamkeit eines grossen Wallfahrtsortes und die Beschaulich- keit eines Klosters zusammenbringe. So lägen die Privaträume der Gemein- schaft etwas abseits vom Trubel auf dem Klosterplatz, in die Stille der Natur seien es nur wenige Schritte. Doch die Stille sei «ein bedrohtes Gut, gerade in unserer Zeit», stellt Pater Philipp fest. In der gut besuchten Klosterkirche brauche es eine Aufsicht, umdie Gebetsatmosphäre zuwahren. Erschöpften Externen bietet das Klos- ter die Möglichkeit einer spirituellen Auszeit: «Wir haben nur ganz wenige Tage, an denen keine Gäste unter uns weilen», so der Mönch. Die Hand im Felsen Zurück in die Einsiedelei St. Verena, die sich gegenMittag zu füllen beginnt. Ein ältererMann betet vor der Ölberg- Zu eng in der Schweiz? Wenn Nutzungskonflikte sogar den Eremiten in der Schlucht erreichen, zeugt das von Veränderungen in der Schweiz. Die Bevölkerung im kleinen Land wächst kontinuierlich und liegt heute bei 8,6 Millionen. Zum Ver- gleich: Vor vierzig Jahren waren es 6,3 Millionen. Schon in zwanzig Jahren könnte laut den Statistikern des Bundes die 10-Millionen-Grenze erreicht sein. Im Durchschnitt teilen sich heute 215 Personen einen Quadratkilo- meter Schweiz, womit die Dichte rund doppelt so hoch wie in Frankreich ist. Wegen der bergigen Topografie leben aber mehr als zwei Drittel der Bevölkerung im Mittelland zwischen Genfer- und Bodensee. Deshalb ist es dort am engsten, und die bebaute Fläche nimmt zu. Allerdings bean­ spruchen Frau und Herr Schweizer beim Wohnen auch mehr Platz. Eine Person belegt 48 Quadratmeter Wohnfläche, sieben mehr als vor sechzig Jahren. Verdichtetes Bauen soll der Zersiedelung entgegenwirken. Die Corona-Pandemie brachte nun die Frage auf, ob der raumplanerisch erwünschte Grundsatz gesundheitlichen Interessen zuwiderlaufe. Immo­ bilienanbieter stellen seit dem Shutdown eine Tendenz zur Stadtflucht fest: die Nachfrage nach Wohnungen auf dem Land wächst. Wie gross der Dichtestress in der Schweiz tatsächlich ist, ist allerdings politisch um- stritten. (SWE) grotte, Nordic-Walkerinnen und Biker hasten an ihm vorbei. Ein Hochzeits- paar samt Fotograf taucht auf, ein fröhliches Team auf Betriebsausflug nähert sich dem Restaurant Einsie- delei beim nördlichen Schluchtaus- gang. Von dort wuselt eine Schul- klasse heran. Der Lehrerin gelingt es, das Kreischen zu stoppen. Jedes Kind darf seine Hand in das Verenenloch halten, eine faustgrosse Öffnung im Felsen. Man sage, das bringe Glück, flüstert die Lehrerin. Wissenschaftler fanden heraus: Ob wir Dichte und Enge ertragen, hängt weniger von der Anzahl Men- schen als von der Umgebungsgestal- tung und respektvollemVerhalten ab. Auf Respekt setzt auch die Einsiedelei- Gesellschaft, die die Bürgergemeinde Solothurnbeim Unterhalt unterstützt. Sie hat ein Malbuch herausgegeben, das Kindern die Einsiedelei und die Landschaft drumherum als schüt- zenswert nahebringt. Vielleicht säe dies etwas, das dann imErwachsenen- alter reife, hofft der Autor imVorwort. Michael Daum während dem Medien­ auftritt nach seiner Ernennung zum neuen offiziellen Einsiedler in der Verenaschlucht. Archivbild Keystone (2016)

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