Schweizer Revue 6/2020

Schweizer Revue / November 2020 / Nr.6 22 Wissen MARC LETTAU Am Anfang unserer kleinen Entde­ ckungsreise steht eine simple These: Heimat ist dort, wo man verwurzelt ist. Nun wollen wir aber genau hin­ hören, wie es imWurzelwerk – in der heimatlichen Scholle – tatsächlich klingt. Nach dem «Klang der Heimat» fahndenwir zuerst in einemSchreber­ garten in einem bernischen Vorort. Mit dabei: Ein guter Kopfhörer, ein hypersensibles Mikrofon, ein Gerät zur Aufnahme unterirdischer Geräu­ sche. Und viel Neugier. Fast ein Gehörschaden Was ist zu hören? Zunächst gar nichts. Dann ein Donnern und Knallen, dass das Trommelfell schmerzt. Die Ur­ sache: Ein Grashalm streift im leich­ ten Wind das empfindliche Mikro­ phon und die Elektronik verstärkt diesen Hauch einer Berührung zu einemFortissimo. Die Aufnahmetech­ nik ist in der Tat ausgesprochen sensi­ bel. Der zweite Versuch verläuft bes­ ser. Im feuchten Erdreich unter den mächtigen Kürbisblättern registriert das Gerät feinste Geräusche: ein leises Rumpeln, ein Knarzen. Der Mangel an Verben Offensichtlich tut sich da im Boden etwas. Mit jeder Etappe der Hinter­ hofexpedition wird klarer, wie über­ raschend reich und schwer beschreib­ bar die unterirdische Klangwelt ist. Hunde bellen, Pferdewiehern, Grillen zirpen, Kühemuhen. Aberwas tut das für uns unsichtbare winzige Getier in der kompostreichen Erde, in die wir jetzt gerade horchen? Es fehlt schier das Vokabular: Es knarrt und knarzt, es nibbelt und fiept, es rumpelt und ruckelt, es knallt und knattert. Und ist da gar ein Schmatzen, ein Gurgeln? Die grossen Themen Aufbruch zu den grossen Themen!Wie klingt zumBeispiel der «Röstigraben», diese imaginäre und vieldiskutierte kulturelle Grenze zwischen der deut­ schen und der welschen Schweiz? Im bernisch-freiburgischen Grenzgebiet stecken wir das Mikrofon – völlig the­ mengerecht – sorgfältig in einen Kar­ toffelacker. Und wir hören: so gut wie nichts. Keine Diskussion, kein Kon­ flikt? Oder ist amEnde in dieser Acke­ rerde kein Leben? Patriotischer Boden Wie klingt die wichtigste Wiese der Schweiz, das Rütli? Trommelnder Dauerregen verhindert dieseMessun­ gen. Als Alternative muss der patrio­ tische Boden herhalten, auf dem das Bundeshaus steht. Vor der südlichen Bundeshausfassade ist es üppig grün. Aus der feuchten Erde rund um die Parkbäume dringen die inzwischen vertrauten feinenGeräusche. Sie sind weit feiner als das Gepoltere, das im Bundeshaus jeweils die Debatten be­ gleitet. «Was tun Sie da?» Es mangelt heutzutage nicht an Leu­ ten, die merkwürdige Dinge tun. Vor demBundeshaus spricht die Passantin das «Schweizer Revue»-Expeditions­ team deshalb mit freundlicher Nach­ sicht an: «Was tun Sie da?»DieAntwort: Wir sind mitten im Lauschangriff auf die Würmer rund ums Bundeshaus. Erst als die Dame sich den Kopfhörer selbst aufsetzt, weicht ihre Skepsis: «Das ist ja der Wahnsinn! Das sollten alle einmal hören. Das lebt ja!» Der Klang der Heimat Wie klingt die Schweiz an und für sich? Wie klingt also die Scholle, der heimatliche Boden? Wer sehr genau hinhört, stellt fest: Im Boden spielt ein von uns überhörtes, vielstimmiges Orchester. Grabesstille herrscht unter Tag nicht. Und wenn doch, ist das besorgniserregend. Wissenschafter versuchen jetzt, diese unterirdische Klangwelt besser zu verstehen. Die «Revue»-Expedition in vertrauter Umgebung: Wer dem Boden Gehör schenkt, dem fehlen angesichts der vielen Geräusche plötzlich die passenden Verben. Foto Danielle Liniger

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