Schweizer Revue 6/2020
Schweizer Revue / November 2020 / Nr.6 26 Politik GERHARD LOB Das Tessin nimmt in der Schweiz punkto Verhüllungsver- bot die Pionierrolle ein. Als erster Kanton hat das Tessin im September 2013 mit 65,2 Prozent Ja-Stimmen eine Volks initiative deutlich angenommen, die das Verhüllen des Gesichts untersagt. Auch wenn die Initiative eigentlich lanciert wordenwar, umdas Tragen von Burka oder Nikab zu verbieten und somit der Islamisierung entgegenzu treten, erfasste das modifizierte Tessiner Polizeigesetz schliesslich sämtliche Arten vonGesichtsverhüllung. Auch Demonstranten und Hooligans dürfen im Tessin von Ge- setzeswegen ihr Gesicht nichtmehr verhüllen. InKraft trat das Gesetz am 1. Juli 2016. Hinter der Initiative stand der heute 67-jährige poli tische Einzelkämpfer Giorgio Ghiringhelli. Der einstige Journalist ist beunruhigt ob der «Islamisierung Europas», wie er im Gespräch mit der «Schweizer Revue» sagt. Eine Initialzündung für seinen Aktivismus seien die Attentate in den USA vom 11. September 2001 gewesen: «Ich habe da- nach die Essays vonOriana Fallaci zum Islamgelesen – das hat mich aufgerüttelt.» Im Jahr 2010 lancierte er erst eine Petition für ein Verbot der Gesichtsverhüllung, kurz dar- auf eine kantonale Volksinitiative, nach dem Vorbild des Verbots in Frankreich. Das Anliegen blitzte im Kantons parlament ab. Grund: Es handle sich um «ein Nicht-Prob- lem», denn im Tessin seien praktisch nie verhüllte Frauen im öffentlichen Raum zu sehen. Doch Ghiringhelli war hartnäckig, zog die Initiative nicht zurück, pochte auf dasMotto «Wehret denAnfängen». Der Nikab sei ein Zeichen für die Unterdrückung der Frau. Die Mehrheit des Tessiner Stimmvolks folgte ihm. Ghiringhelli hoffte zudem auf einen Nachahmungseffekt. Dieser ist tatsächlich eingetreten. Der Kanton St.Gallen führte am 1. Januar 2019 ein Verhüllungsverbot ein – eben- falls nach einer Volksabstimmung (66,7 Prozent Ja). ImKan- tonGlarus scheiterte eine entsprechende Vorlage hingegen 2017 an der Landsgemeinde. Statt eines kantonalenVerbots wurde dort eine landesweit einheitliche Lösung gefordert. Eine solche Einheitslösung sieht die Volksinitiative «Ja zumVerhüllungsverbot» vor. Diese Initiative hat praktisch den Tessiner Gesetzestext kopiert. Im Oktober 2017 kam die Initiativemit 105000 gültigenUnterschriften zustande, im März 2021 steht die Abstimmung an. Hinter der Initia- tive steht das Egerkinger Komitee um den Luzerner Natio- nalrat Walter Wobmann von der Schweizerischen Volks- partei. Dieses war 2009 mit der Anti-Minarett-Initiative erfolgreich, jener Initiative, welche international für Auf- sehen sorgte, weil seither der Bau von Minaretten in der Schweiz verboten ist. Der Bundesrat und das Parlament lehnen die Verhül- lungsinitiativemehrheitlich ab. Sie greife in die Autonomie der Kantone ein. Zudemgebe es schlicht sehrwenige Burka- undNikab-Trägerinnen in der Schweiz. Gemäss Schätzung des Bundes leben nur 95 bismaximal 130 vollverschleierte Frauen im Lande. In der Debatte um das Verhüllungsverbot geht es um die Religionsfreiheit, Frauen- und Selbstbestimmungs- rechte, die Problematik von Kleidervorschriften und die Rolle des Islams in der Gesellschaft. Doch auch wirtschaft- liche Argumente spielen eine Rolle. So wird etwa vor den negativen Auswirkungen eines Verhüllungsverbots auf den Tourismus gewarnt. Regionen mit Gästen aus dem arabischen Raum hätten das Nachsehen. Justizministerin Karin Keller-Sutter sagte in der Parlamentsdebatte: «Eine Ausnahme für den Tourismus wäre nicht möglich.» Die bisherigen Erfahrungen imTessin zeigen, dass nur äusserst wenige Bussen gegen vollverschleierte Frauen aus- gesprochen wurden. Die meisten davon betrafen Nora Illi, die umstrittene Frauenbeauftragte des Islamischen Zent- ralrats der Schweiz, welche ihre Bussen aus Protest gegen die Regelung bewusst provozierte. Die zum Islam konver- tierte Schweizerin ist imMärz 2020 gestorben. ImKanton St. Gallen wurde laut der dortigen Kantonspolizei bisher noch keine einzige Busse wegen Verstosses gegen das Ver- hüllungsverbot ausgesprochen. Die Polizei im Tessin verfügt über Flugblätter in arabi- scher und englischer Sprache, in welcher auf die Kleider- vorschriften hingewiesen wird. Einige Touristinnen um- gingen jedoch das Verbot, indem sie statt des Schleiers medizinische Gesichtsmasken trugen, so wie sie nun wegen der Corona-Pandemie allgegenwärtig sind. In der Modell-Schweiz «Swissminiatur», welche arabische Touris- Zwischen Freiheit und Zwang: Das Burkaverbot an der Urne Soll landesweit verboten werden, sich das Gesicht zu verschleiern? Der Schweizer Souverän wird im März über eine Initiative abstimmen, die genau dies fordert. Die Vorlage ist ein Paradebeispiel für direkte Demokratie in der Schweiz. Und im Abstimmungskampf richten viele den Blick ins Tessin. Soll verboten werden: Nikab Burka Weiterhin erlaubt: Hijab Chador
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