Schweizer Revue 1/2021

Schweizer Revue / Februar 2021 / Nr.1 10 Reportage JÜRG STEINER Friedlich ruhen die im Chaletstil ge­ bauten Häuser in der Wintersonne, die trotz der schroffen Berge auf bei­ den Seiten auch die schmale Talsohle hell ausleuchtet. Das Dorf Mitholz, in dem rund 200 Menschen leben, liegt auf einer flachen Terrasse im Kander­ tal. Es gibt noch eine letzte geöffnete Beiz, aber längst keinen Laden mehr. Die Bahnlinie und die Strasse hoch zum Autoverlad durch den Lötsch­ bergtunnel insWallis schlängeln sich durch Mitholz. Das Dorf ist wilder alpiner Natur ausgesetzt: Steinschlag, Erdrutsche, Hochwasser, Lawinen. «Wir sind es gewohnt, mit Naturgefah­ ren umzugehen. Sie waren und sind für uns kein Grund wegzuziehen», sagt Roman Lanz, der Präsident der Gemeinde Kandergrund, zu der Mit­ holz gehört. Und doch ist vor gut zwei Jahren die Frage, ob es für Bewohnerinnen und Bewohner in Mitholz zu gefähr­ lich ist, plötzlich ein Thema, über das alle reden. Redenmüssen. Der Grund dafür liegt tief imFels über demDorf: In teilweise eingestürzten Stollen lagern seit dem Zweiten Weltkrieg Tausende Tonnen scharfe Munition, darunter auch 50 Kilogramm wie­ gende Fliegerbomben. Dass imBergGefahr lauert, wissen Mitholzerinnen und Mitholzer seit 1947. Damals, kurz vor Weihnachten, kam es in den eben fertiggestellten Kavernen mitten in der Nacht zu drei heftigen Explosionen. Es regnete Ge­ röll vom Himmel, aus den Stollenein­ gängen schossenDruckluft, Munition, Bergschutt, die das Dorf schwer be­ schädigten. Neun Menschen starben, es war einer der schwersten Unfälle der Schweizer Armeegeschichte. Schon ein Jahr später zogen Mit­ holzerinnen undMitholzer zurück in ihre Häuser, doch die Ursache der Ex­ plosion blieb bis heute ungeklärt, wie der Journalist Hans Rudolf Schneider in seinemBuch «Die Schreckensnacht von Mitholz» schreibt. Trotzdem stufte ein behördliches Gutachten Ende der Vierzigerjahre das beschä­ digteDepot, in dembis heute rund die Hälfte der ursprünglich 7000 Brutto­ tonnen Munition verschüttet herum­ liegt, als unbedenklich für die ansäs­ sige Bevölkerung ein. Erst als die Armeeführung damit lieb­ äugelte, in den Kavernen vonMitholz ein geheimes Rechenzentrum zu ins­ tallieren, änderte sich alles. Eine neue Expertise kam im Sommer 2018 zum Schluss: Die vom Munitionslager aus­ gehenden Risiken seien für Strasse, Häuser und Bahn – und damit für die Menschen – «unzulässig». Plötzlich wurdeMitholz zumexplosivstenDorf der Schweiz. Die Bevölkerung fiel nach der ersten Information im Juni 2018 in eine Art Schockstarre, erinnert sich Gemeindepräsident Roman Lanz. Es dauerte noch einmal anderthalb Jahre, Der explosivste Ort der Schweiz Seit über 70 Jahren lagern bei Mitholz im Berner Oberland Tausende Tonnen scharfer Weltkriegsmunition im Berg. Jetzt soll das Arsenal plötzlich geräumt werden, die Einwohner müssen wegziehen. Wird Mitholz ein Schweizer Geisterdorf? Höher, weiter, schnel- ler, schöner? Auf der Suche nach den etwas anderen Schweizer Rekorden. Heute: Auf Besuch in der explosivsten Schweizer Gemeinde. e trem Schweiz Nach Explosionen in den Kavernen pras- selt Geröll aufs Dorf. Neun Menschen ster- ben, zahlreiche Häu- ser werden zerstört. Archivbild Keystone, 1947

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx