Schweizer Revue 1/2021

Schweizer Revue / Februar 2021 / Nr.1 13 Literaturserie virtuos kaschierter Protest gegen die kulturelle Repres- sion in Frankreich und belegte wie kein anderer Text, zu welch eloquenter Napoleon-Gegnerin Germaine de Staël herangewachsen war. Sie verkörperte dem mächtigen Diktator gegenüber längst so etwas wie das liberale Gewis- sen Europas. Aber auch ihre anderen Bücher ärgerten Napoleon. So hatte er zu «Delphine» anonymeinen Verriss geschrieben, und «Corinna» war ihm allein schon deshalb in den falschen Hals geraten, weil der Roman, obwohl im Jahr seiner italienischen Königskrönung entstanden, den Eroberer mit keinemWort erwähnte. «Nicht ohne Interesse» Als Germaine de Staël am 14. Juli 1817mit 51 Jahren aus einemLeben voller Bewegung, Leidenschaft und gelebter Sinnlichkeit gerissen wurde, hatte sie ihren Pariser Salon längst in altem Glanz wie- dereröffnet, während Napoleon für immer auf St. Helena verbannt blieb. Dort hatte er dem Vertrau- ten Las Cases imAugust 1816 nach erneuter Lektüre bekannt, dass ihm seine Rivalin und ihre «Co- rinna» keine Ruhe liessen: «Ich sehe sie, ich höre sie, ich fühle sie, ich will sie fliehen, ich werfe das Buch hin. Ich hatte das Buch bes- ser in Erinnerung, als wenn ich es heute lese. Immerhin werde ich durchhalten, ich will wissen, wie es endet. Mir scheint nach wie vor, dass es nicht ohne ein gewisses Interesse ist.» BIBL IOGRAF IE: «Über Deutschland» ist als Reclam-Taschenbuch greifbar. CHARLES L INSMAYER IST L I TERATURWISSEN- SCHAFTLER UND JOURNAL IST IN ZÜRICH CHARLES L INSMAYER Napoleon erregte ihrenUnwillen, als er auf ihre Frage nach der bedeutendsten Frau aller Zeiten antwortete: «Jene, die am meisten Kinder geboren hat.» Dabei war die 1766 in Paris geborene Genferin Germaine de Staël als Mutter von fünf Kindern durchaus auch in dieser Hinsicht konkurrenz­ fähig. Zwar war sie seit 1786mit dem schwedischen Baron de Staël verheiratet, aber auf die Monogamie verpflichten liess sie sich nicht. Kaum jemand wusste, wer unter ihren Liebhabern jeweils die Väter ihrer Kinder waren. Nein, dieMutterschaftwar nicht ihre herausragendste Qualität. Das waren ihre geistige Brillanz, ihr unbeug­ samer Selbstbehauptungswille als Frau und nicht zuletzt ihre spitze Feder, mit der sie europaweit Berühmtheit er- langte und den selbsternannten Kaiser Napoleon zu schie- rer Verzweiflung trieb. Die Revolution, der sie in ihren An- fängen gewogen war, hatte sie auf ihrem Landsitz Coppet bei Genf überlebt. Nach dem Sturz Robespierres war sie je- doch 1794 nach Paris zurückgekehrt und versammelte die konservative Elite in ihremSalon. Mit Napoleon freundete sie sich zunächst an, zerstritt sich aber mit ihm, als sie sich gegen die Einflussnahme Frankreichs auf die Errichtung der Helvetischen Republik aussprach. Italien und Deutschland als Themen Ihre literarischen Erfolge basierten auf Reisen, von denen die unsicheren Zeiten sie nicht abhalten konnten. «Corinne ou l’Italie» (1807) setzt in romantischemÜberschwang das Erlebnis von Kultur und Geschichte Italiens mit der Loves- tory Corinnas zu einem englischen Lord parallel. «De l’Allemagne», das Buch, dem wir die Qualifizierung Deutschlands als «Land der Dichter und Denker» verdan- ken, geht auf eine Reise zurück, die sie 1803/04 nach Berlin undWeimar und in den EinflussbereichGoethes und Schil- lers geführt hatte. Napoleons Polizei verhinderte 1810 die Publikation diesesWerks: Sie vernichteteManuskript und Druckplatten und zwang die Autorin, sich nach Coppet zu- rückzuziehen. Als sie sich auch da bedroht fühlte, floh sie 1812 nach England, wo «De l’Allemagne» 1813 erschien. Das liberale Gewissen Europas Napoleons Wut war nachvollziehbar, denn die Huldigung an das poetische Deutschland war in Wirklichkeit ein Die Frau, die Napoleon in die Schranken wies Die Genferin Germaine de Staël lebte als Autorin und intellektuelles Schwergewicht in Paris, musste aber immer wieder in die Schweiz ins Exil kommen. «Oh die Gesellschaft, die Gesellschaft! Wie hart lässt sie einem das Herz, wie frivol den Geist werden! Wie sehr verführt sie einen dazu, sein Leben nach der Meinung der Leute zu richten! Würden sich die Menschen eines Tages wiederbegegnen, ein jeder befreit von allen Einflüssen der anderen, welch klare Luft würde ihnen die Seele füllen! Was für neue Ideen, was für wahre Gefühle würden sie erfrischen!» (Aus: Germaine de Staël: «Corinna oder Italien», 1807)

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