Schweizer Revue 1/2021
Schweizer Revue / Februar 2021 / Nr.1 14 Gesellschaft DÖLF BARBEN Dieses Jahr fühlte sich Betty Bossi schon fast ein bisschen wieHelvetia. In der Corona-Pandemiewollte sie da sein für die Menschen in diesem Land. AIs diese nicht mehr in die Restaurants durften und zurückgedrängt wurden an den eigenenHerd, schlug Betty Bossis Stunde. Sie schaltete ihre sonst kostenpflichtigen digitalen Rezepte aus 120 Koch- und Backbüchern frei und zeigte den Bürgerinnen und Bürgern, wie man Burger brät und Bananenbrote bäckt. Wie immer mit Gelinggarantie. Und es funktionierte. Ein- mal mehr. Die Schweizerinnen und Schweizer haben ihre Webseite über zehnMillionenMal besucht. In einemMonat. 1956 erschien die erste Betty Bossi Post, ein doppelseitig be- drucktes Informationsblatt, das in Läden gratis aufgelegt wurde. «Was soll ich heute kochen?» Das war der Titel des allerersten Artikels. Der Text kam so daher, als hätte Betty Bossi ihn selber verfasst. Ein Bild zeigte die strahlende Frau. Am Ende des Artikels stand ihre Unterschrift. Auf diesem Informationsblatt war schon fast alles da, was Betty Bossi auch heute noch ausmacht. Sie bot sich ihren Leserinnen als Freundin an, die ihnen nicht bloss alles vor- kauen, sondern sie ermächtigen wollte. Sie ermunterte sie, einen Menuplan zu erstellen, damit das Essen gut und abwechslungsreichwird, es keine Resten gibt und amEnde derWoche etwas Geld übrigbleibt. Und sie präsentierte ein halbes Dutzend Rezepte, darunter dieses für einen Brot auflaufmit Äpfeln: 300GrammBrotresten, ein halber Liter Milch, 3 Eier, 60 Gramm «Astra-10», 300 Gramm Äpfel, 80 Gramm Zucker, 2 Löffel Sultaninen, abgeriebene Zitronenschale. «Astra-10»: Das war der springende Punkt. Betty Bossi wollte nicht nur die Freundin der Hausfrauen sein, sie wollte diese auch dazu bringen, die Fette, Öle und Margarinen der Firma Astra zu ver- wenden, die ihr Werk in Steffisburg bei Thun betrieb und zum Unilever-Konzern gehörte. Damit ist es gesagt: Betty Bossi war von Anfang an eine Kunstfigur, die auf Wechselwirkung ausgelegt ist, aufs Geben und aufs Nehmen – eine Influencerin. Und das Rezept, das dieWerbetexterin Emmi Creola-Maag in den USA aufgespürt hatte, wo es eine Frauenzeitschrift namens «Betty Crocker» gab, funktionierte auch inder Schweiz hervorragend: Mit der Betty Bossi Post ging für Betty Bossi die Post ab. Der Historiker BenediktMeyer sagt dazu, dasWirtschaftswunder nach demZweitenWeltkrieg habe nicht nur Autos, Fernseher und neue Frisuren ge- bracht, sondern auch eine neue Küche – und zwarwörtlich: Elektrische Öfen, Mixer, Rühr- und Knetmaschinen eröff- neten neue Möglichkeiten, und die Läden boten immer neue Produkte an. Meyer: «Um sich in diesen ganzen Neu- heiten nicht zu verlieren, brauchten Schweizerinnen und Schweizer Hilfe. Und die bot ihnen Betty Bossi.» Betty Bossi und Helvetia haben etwas gemeinsam: Sie exis- tieren nicht wirklich. Und doch sind sie Schweizer Lichtge- stalten, die jede und jeder zu kennen glaubt: Helvetia, die mit einem Speer bewehrt auf der Rückseite der Ein- und Zweifrankenstücke imStrahlenmeer steht. Und Betty Bossi, die an den Herd tritt und den Leuten seit Jahr und Tag da- bei hilft, eine der schwierigsten Fragen zu beantworten: Was soll ich heute kochen? Seit bald 65 Jahren gehört Betty Bossi zur Grundausstat- tung des Landes. Höchste Zeit also, einmal zu fragen, was ihr unermüdliches Schaffen denn gebracht hat. Haben ihre Kochbücher die Schweizer Haushalte tatsächlich «nach haltig beeinflusst», wie das im Historischen Lexikon der Schweiz steht? Oder würden wir das Gemüse immer noch mit weissen Mehlsaucen überziehen, wenn nicht Betty Bossi in unser Leben getreten wäre? «Was soll ich heute kochen?» Erst stellte Betty Bossi die Aus- gangsfrage, dann lieferte sie Tausende Koch- und Backrezepte. Die unsterbliche Influencerin Betty Bossi, die fiktive Köchin der Schweiz, lief im Corona-Lockdown zu Hochform auf.
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