Schweizer Revue 1/2021

Schweizer Revue / Februar 2021 / Nr.1 23 Cartoonist Felix Schaad zeichnet – unter dem Eindruck stark steigender Todesfallzahlen. Erstpublikation 21. November 2020, www.tagesanzeiger.ch Vergleich hoch, trotz bestem Gesundheitssystem. Es stür- ben zum grössten Teil über 80-Jährige, antwortete der Schweizer Finanzminister UeliMaurer, als er imNovember darauf angesprochen wurde. Die Regierung habe eine «Gü- terabwägung» vorgenommen, so der Magistrat der rechts- konservativen SVP. Aus Protest gegen die in ihren Augen gleichgültige Haltung in Politik und Öffentlichkeit zünde- ten engagierte Bürgerinnen und Bürger auf dem Bundes- platzKerzen an. Bis zuWeihnachten erlagen seit Beginnder Pandemie weit über sechstausend Menschen dem Virus. Die Grenzen der Eigenverantwortung in einer hochanste- ckendenPandemie, das träge Schweizer Regierungssystem, unkoordinierter Föderalismus, Versäumnisse beim recht- zeitigen Aufbau einer Strategie gegen die zweiteWelle, Vor- rang kleinteiliger Lobby-Interessen vor epidemiologischer Vernunft, Furcht vor den finanziellen Folgen eines Shut- downs: Das waren Faktoren, die im Inland als Gründe fürs Corona-Debakel genanntwurden. Auch imAuslandblickte manverwundert auf das large Schweizer Pandemie-Regime. DieWeltgesundheitsorganisation äusserte sich tadelnd. Die Je mehr sich die Situation zuspitzte, desto kontroverser wurde dieDebatte. Nicht nur Epidemiologinnen rieten den Behörden jetzt, die Seuche entschiedener zu bekämpfen, auch Ökonomen taten das. Es nütze der Wirtschaft nichts, wenn die Bevölkerung krank sei. Die politischen Parteien, die sich im Frühjahr alle hinter den Bundesrat gestellt hat- ten, legtenwährend derWintersession imBundeshaus ihre Zurückhaltung ab. SP undGrüne forderten schärfereMass- nahmen und eine grosszügigere Abfederung wirtschaftli- cher Folgen beimGewerbe. FDP und SVP hingegen stellten sich vehement gegen restriktive und flächendeckende Ein- griffe. Mit Erfolg: Die Schweizer Skigebiete durften öffnen, während Europa noch umeine gemeinsame Regelung rang. Die Medien hinterfragten den Schweizer Weg zuneh- mend. «Minimalistische Massnahmen gegen Covid, die Skiorte bekommen ihr Weihnachtsgeschäft – welche Werte sind für die Schweiz eigentlich noch unverhandel- bar?», fragte das Online-Magazin Republik. «Warten ist tödlich», befand selbst die «Neue Zürcher Zeitung», die das liberale und regional differenzierte Vorgehen gegen die Pandemie grundsätzlich begrüsste. ImRückblick sei es ein Fehler gewesen, dass Bund und Kantone nicht früher mit griffigen Massnahmen auf den Anstieg der Fallzahlen reagiert hätten. Schweiz stelle Sparsamkeit vor Menschenleben, trotz tiefs- ter Staatsverschuldung, titelte die renommierte US-Zeit- schrift «Foreign Policy». Und das deutsche Magazin «Der Spiegel» beobachtete einen Schweizer Unverwundbarkeits­ glauben, der sich wohl historisch erklären lasse. Der Druck auf den Bundesrat wuchs. Vor den Festtagen schlugen die grossen Spitäler öffentlich Alarm. Das Perso- nal sei erschöpft. Daraufhinnahmdie Landesregierung das Heft in die Hand und verschärfte schweizweit die Regeln. Restaurants, Sportanlagen, Museen und Freizeiteinrich- tungen mussten schliessen. Zugleich wurden die Finanz- hilfen um 1,5 Milliarden Franken aufgestockt. Die Infekti- onenmüssten zurückgehen, beschwor Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga die Bevölkerung: «Es braucht jetzt das ganze Land.» Die Anordnungenwaren allerdings nicht frei von Widersprüchlichkeiten. Die Läden blieben offen, die Skipisten in den Tourismuskantonen ebenfalls. Ein kühles Zeichen kam derweil vomWeltwirtschaftsforum WEF, das traditionell in den Bündner Bergen stattfindet. Es verlegte die Hauptveranstaltung 2021 nach Singapur. Die epidemische Lage in der Schweiz war der Wirtschaftselite zu heikel geworden. Aktuelle Informationen: www.sciencetaskforce.ch

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