Schweizer Revue 2/2021

Schweizer Revue / April 2021 / Nr.2 20 Interview einemVirus verhandeln? Ich sags nur ungern: Mit dem Virus kann die Schweiz nicht verhandeln. Wurden wirtschaftliche Interessen über den Schutz von Menschenleben gestellt, wie kritische Stimmen befanden? Legt die Pandemie ein Werte-Problem offen? Mir ist schon die Gegenüberstellung von Wirtschaft und Menschenleben ein Rätsel. Blüht denn die Wirtschaft, wenn viele krank sind und die Todes­ zahlen hochgehen? DieWirtschaft ist doch in der Pandemie kein Parallel­ universum, in dem andere Gesetze gelten. Auch jetzt gehts schon wieder los mit Forderungen, rasch zu öffnen. Ich kann die immer gleichen empirie­ resistenten Argumente bald nicht mehr hören. Das ist meine Corona­ Müdigkeit. Es kommtmir vor, alswäre ein Teil des Landes und gewisse Politiker zu quengelnden Teenagern geworden, denen man Abend für Abend ein­ bläuen muss: Nein, du nimmst nicht mein Auto, um auszugehen. Da will man irgendwann nur noch sagen: Ach, sauf doch, so viel duwillst, hier ist der Autoschlüssel, schau, wo du bleibst. Die hohen Covid-Todeszahlen waren in der Öffentlichkeit lange kein Thema. Können Sie sich das erklären? Erst nach und nach wurde bekannt, dass Altersheime die reinsten Todes­ fallen waren. Schlimm fand ich den kaltschnäuzigen Diskurs, der dann einsetzte. Die philosophische Tiefsinn­ fraktion liess uns durch die Medien wissen, jeder Mensch sei schliesslich sterblich. Die Älteren wurden aufge­ fordert, Patientenverfügungen zu ver­ fassen, damit es nicht zur Triage um die knapp gewordenen Intensivbetten kommenmüsse. Nach demMotto:Wer will schondieQuälerei einer Beatmung auf sich nehmen? Da sterbenwir doch lieber friedlich an Corona. Ich habe übrigens demDrucknachgegebenund eine Patientenverfügung ausgefüllt. Darf man fragen, was drinsteht? Dass ich unter allen Umständen am Leben erhalten und nicht von Covid­ infiziertem Personal behandelt wer­ den möchte. Der Witz ist ja, dass es durchaus nicht schadet, ab und zu der eigenen Sterblichkeit zu gedenken. Hier aber lenkte das nur vomSkandal ab, dass nicht rechtzeitig griffigeMass­ nahmen gegen eine zweite Welle er­ griffen wurden. Es hiess, ein zweiter Shutdown wäre der Bevölkerung nicht zu vermitteln. Dabei hatte der erste gar keine Entsolidarisierung be­ wirkt. Die Leute sagten nicht, Covid wird nur denÄlteren und den starken Rauchern gefährlich, was gehts uns an. Zu Weihnachten kippte dann die Sterblichkeitsdebatte. Plötzlich woll­ ten alle wieder ihre Grosseltern um­ armen und durften nicht. Die Zeitun­ gen waren voll davon. Eine Verkit­ schung sondergleichen. Die Schweiz war bei der Pandemiebekämp- fung gar nicht so gut, wie viele dachten. Was macht das mit unserem Selbstbild als Land, in dem immer alles funktioniert? Wohl wenig. Jenemit Selbstüberschät­ zung juckt das wahrscheinlich nicht besonders. Die finden eher noch, Kom­ promisse hätten uns vom richtigen Schweizer Weg abgehalten. Und die anderen haben vermutlich nicht so ein idealisierendes Bild vom Schwei­ zer-Sein, dass sie jetzt wahnsinnig überrascht wären. Was aber sein kann: dass es nicht einfach sein wird, verlorenes Vertrauen in kommenden Krisensituationen wiederherzustel­ len.Weitere Pandemienwarten ja nur darauf auszubrechen. Wird die Jahrhundertkrise Corona das Zusammenleben in der Schweiz verändern? Nein. Die Pandemie und ihre Unter­ themen bieten so viel Stoff, dass alle Wasser auf ihre Mühlen lenken kön­ nen und sich in der eigenen Haltung bestätigt sehen. Einen Lerneffekt er­ hoffe ichmir höchstens institutionell, etwa bei der Entwicklung einer bes­ seren Warn-App. Vor lauter Enttäu­ schung darüber, dass es den gloriosen Schweizer Weg nicht gab, sollte man nun auch nicht ins Gegenteil verfallen. Es gibt ja manchmal diese Neigung zumSündenstolz. Gewiss, die Schweiz hat in der Pandemie absolut nicht geglänzt. Daneben funktioniert aber vieles sehr gut. Und andere Länder, die es phasenweise besser machten, ras­ selten auch in eine zweite oder dritte Welle. Das muss man gerechterweise sagen. «Die Leute sind nicht nur wegen der vielen Einschränkungen missgestimmt, sondern auch wegen der Orientierungs­ losigkeit.» Sie finden alle Beiträge der «Schweizer Revue» zur Corona-Pandemie in einem Dossier auf www.revue.ch. Direktlink aufs Dossier: revue.link/corona

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx